Wenn es um Hildegard von Bingen geht, wird es gerne kitschig. Die Nonne aus der Stauferzeit muss für die Mittelalter-Fantasien des 21. Jahrhundert herhalten – vom Dinkelbrot bis zum angeblich heilenden Stein. Bingens Museumschef Matthias Schmandt will ein seriöses Bild der Heiligen und ihrer Bedeutung vermitteln. Der promovierte Historiker hat im Museum am Strom eine Dauerausstellung über Hildegard von Bingen entwickelt und engagiert sich jetzt für die umstrittene große Lösung auf dem früheren Klostergelände am Bingerbrücker Rupertsberg: Den Kauf der so genannten „Würth’sche Villa“ durch die Stadt und ihr Umbau zum Geschichtszentrum mit Kreisarchiv. Hier erklärt er, warum.
Bingen diskutiert über eine Ruine, die viele gar nicht kennen. Ich selbst habe mittlerweile gelernt, dass vom Kloster Hildegards von Bingen mehr als Mauerreste im Keller zu sehen sind. Was genau ist erhalten und wie alt ist es?
In den Mauern der Würth‘schen Villa hat sich, bislang gut versteckt und nicht öffentlich zugänglich, die gesamte südliche Seitenkapelle der Hildegard-Kirche erhalten – auch die vom Keller bis ins Erdgeschoss reichenden Mittelschiffarkaden aus dem 12. Jahrhundert. Im Inneren beschleicht einen schon jetzt ein bisschen romanisches Basilika-Feeling – wenn auch der Chor dem Eisenbahnbau zum Opfer gefallen ist und die Fantasie noch ein bisschen virtuelle Nachhilfe braucht. An der Rückseite der Villa hat sich, ebenfalls vor interessierten Blicken geschützt, eine reich dekorierte gotische Altarfassung erhalten: die zierte einen berühmten Marienaltar, der quasi im Doppelpack mit Hildegard Anlass zur Pilgerfahrt an den Ruperts Berg bot. Und dann ist da noch der tonnengewölbte Keller aus dem 19. Jahrhundert genau unter der früheren Kirche, der zwar historisch nichts mit Hildegard zu tun hat, der aber doch immerhin genau die Atmosphäre vermittelt, die einst an gleicher Stelle von der Krypta mit dem Hildegard-Grab ausging.
Das Interesse an Hildegard von Bingen wirkt manchmal esoterisch und die Vermarktung kitschig. Wollt ihr dagegen angehen oder muss man das einfach akzeptieren?
Das Interesse an Hildegard ist manchmal esoterisch und die Vermarktung der „Marke Hildegard“ bisweilen auch kitschig und ziemlich albern. Aber so ticken Menschen halt: Wir richten unsere Wünsche und Sehnsüchte gerne auf Projektionsflächen in weiter historischer Ferne, die keiner so genau kennt und die deshalb beliebig ausgefüllt werden können. Das wollen wir auch sicher niemandem verbieten. Umso wichtiger ist es aber, seriöse Hildegard-Angebote zu entwickeln, die nachhaltig sind und überzeugen. In Bingen und im Museum am Strom versuchen wir seit langem, Hildegard zu erden, sie als Mensch unter den historischen Bedingungen ihres Lebens, Wirkens und Nachwirkens zu verstehen. Und siehe da: Langsam lichtet sich der Nebel, und wir erkennen Hildegard immer deutlicher als die historisch bedeutsame Persönlichkeit, die sie wirklich war – und die zwischen 1140 und 1175 bei wichtigen Haupt- und Staatsaktionen der Epoche eine Rolle spielte. Hildegards Werk, das vom Kloster Rupertsberg aus Wirksamkeit entfaltete und ihr die Erhebung zur Kirchenlehrerin – als dritte Frau überhaupt in 2000 Jahren – eingebracht hat, macht das ehemalige Kloster, wo dieses Werk entstand, zu einem Erinnerungsort von herausragender Bedeutung!
Die „AZ“ sieht den Kauf der Würth’schen Villa als Entscheidung für die nächsten Jahrhunderte. Es ist geplant, den früheren Klosterort mit einem künftigen Kreisarchiv verbinden. Wo ist der Zusammenhang, außer, dass es um Geschichtliches geht?
Wie gesagt: Der Rupertsberg ist ein ganz besonderer Erinnerungsort für die gesamte Region, und Archive sind Institutionen, die das Erinnern organisieren. Wenn nun das Dokumentenerbe eines halben Jahrtausends zwischen Oppenheim und Bacharach, das bislang vom Landesarchiv im fernen Speyer betreut wird bzw. mancherorts wohl noch gar nicht im Sinne des Archivgesetzes zugänglich ist, an der Stätte eines endlich in Wert gesetzten Baudenkmals erforscht werden könnte – das wäre doch mal ein echter kulturpolitischer Aufbruch für einen Kreis, der immerhin auch zum UNESCO-Welterbe Mittelrheintal gehört und auf 2000 Jahre Kultur und Geschichte stolz sein kann! Auch touristisch lässt sich damit punkten: Zwar wird ein Kreisarchiv sicher kein internationales Publikum anlocken; wenn es aber dafür sorgt, dass die Überreste der Hildegard-Kirche erstmals seit 200 Jahren öffentlich zugänglich sind und mittels gut gemachter virtueller Multimedia-Ergänzungen noch ein bisschen spannender daherkommen, dann hat das gesamte „Land der Hildegard“ etwas davon: Wer nämlich auf den Spuren großer Geister der Vergangenheit wandelt, sucht immer auch den Ort, wo der oder die Verehrte einst lebte und wirkte – ob es das Goethehaus in Frankfurt, die Lutherstube auf der Wartburg oder eben das Hildegard-Kloster in Bingen ist. Und bisher können wir all diesen Leuten hier nur sagen: Tut uns leid…
Der Kreis Mainz-Bingen ist keine historisch gewachsene Region, sondern ein Kunstprodukt der späten 60er Jahre. Gibt es trotzdem ein gemeinsames historisches Erbe?
Es stimmt schon: Wie bei so manchem durch die Gebietsreform von 1969 entstandenen Kreis sind auch die historischen Regionen von Mainz-Bingen eigentlich erst einmal nur durch ihre gemeinsame Lage entlang des Rheins miteinander verbunden. Gerade deshalb braucht der Kreis ja Orte, an denen so etwas wie „Kreisidentität“ entstehen kann. Dass der Rupertsberg dafür besonders geeignet ist, lässt sich nicht nur historisch ableiten und in Geschichten verpacken; da könnte man etwa darauf verweisen, dass die drei durch ihre Symbole im Kreiswappen verewigten historischen Herrschaften – Kurpfalz, Kurmainz und das Reich – alle gleichermaßen über Jahrhunderte hinweg die Klostergeschicke geprägt haben: Kurmainz und Kurpfalz haben sich ständig um den Rupertsberg gestritten, und die Schutzurkunde Barbarossas für Hildegard, die spätere Kaiser immer wieder bestätigt haben, bildete unter diesen Voraussetzungen geradezu die Lebensversicherung des Klosters. Aber man muss das nicht einmal so abstrakt angehen. Wer am Rupertsberg steht, blickt auf die zwei Flüsse Rhein und Nahe, die das Kreisgebiet durchziehen, und sieht auf alle drei Weinanbaugebiete, die dem Weinkreis Mainz-Bingen seine charakteristische Prägung verleihen. Und vor allem: Seit 50 Jahren gehört auch das Gebiet des südlichen Rheintals neben den noch immer stark im Vordergrund stehenden Altkreisen Mainz und Bingen zum Kreis. Da wäre es doch ein tolles Signal, wenn passend zum Jubiläum auch einmal eine wichtige Kreiseinrichtung im Neuland jenseits der Nahe heimisch würde!
Archivgebäude müssen Massen von Papier tragen und in optimalem Raumklima lagern können. Wäre ein Neubau nicht einfacher?
Wir haben ja in enger Zusammenarbeit mit der Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz den Vorschlag für das Kreisarchiv am Rupertsberg entwickelt. Aus archivfachlicher Hinsicht erscheint der große Kellerbereich unter den Flachbauten am Rupertsberg durchaus geeignet zur Magazinierung, und er würde von den Dimensionen her wohl auch ausreichen, um das gesamte kommunale Schriftgut im Kreisgebiet (inklusive der derzeit in Speyer verwahrten Akten und Urkunden) aufzunehmen – und zwar auch perspektivisch, bis der letzte Griffel in hiesigen Amtstuben gefallen sein wird und auch Akten nur noch digital existieren. Weitergehende baufachliche und statische Details können wir natürlich nicht bewerten. Jedenfalls könnten die Hallenkeller als Magazin genutzt, die Hallen selbst abgetragen und als attraktive Freiflächen auch für die Buga 2029 neu angelegt werden. Die Villa mit der Kirchenruine würde zum öffentlichen Archiv-Lesesaal, zur regionalgeschichtlichen und Hildegard-Fachbibliothek und zum Veranstaltungsraum. Dann hätten wir das angestrebte „Regionalarchiv an Rhein und Nahe mit Mehrwert“. Allerdings gehört zur Wahrheit schon auch: Ja, ein Archiv-Neubau auf der grünen Wiese wäre wohl billiger. Aber eben auch ohne Mehrwert und Leuchtturm-Charakter für Tourismus und „Kreisidentität“, als Erinnerungsort, atmosphärische Veranstaltungsstätte und Beitrag zur Buga 2029.
TV-Tipp:
„Auf den Spuren der Hildegard von Bingen“ heißt eine SWR-Reportage aus dem Jahr 2018, die noch bei YouTube zu sehen ist. Journalist Steffen König besucht dort auch Matthias Schmandt im Museum am Strom (ab Minute 9:30)
Die Sonntags-Interviews 2019 auf einen Blick:
Robert Wurm (Ex-Manager und Winzer in Lorch) – Marcus Schwarze (Journalist, Digitalberater und Buga-Blogger) – Tristan Storek (Düsseldorfer Jungwinzer und Techniktalent in Steeg) – Andreas Nick (Lehrer, Kommunalpolitiker und Hostel-Besitzer in Bad Salzig) – Jean-Michel Malgouyres (französischer Küchenchef in Rüdesheim) – Natascha Meyer (Kanzlei-Managerin, Lektorin und Boppard-Botschafterin) – Heiner Monheim (Verkehrsforscher und Bahnlärm-Bekämpfer) – Carolin Weiler (Winzerin und „FAZ“-Liebling aus Lorch) – Petra Bückner (Tourismuschefin in Lahnstein) – Michael Stein (Kommunalpolitiker aus Bingen) – Falko Hönisch (Opernsänger und Bürgermeisterkandidat in St. Goar) – Kathrin Büschenfeld (Apothekerin in Lorch) – Dieter Stein (IT-Manager und Konzertveranstalter aus St. Goar) – Peter Henrich (Archäologe in Koblenz) – Martin Bredenbeck (Geschäftsführer des Rheinischen Vereins) – Markus Patschke (Energieberater in Bacharach) – Ulrich Lautenschläger (Konzertveranstalter auf der Loreley) – Ivo Reßler(Bürgermeister-Kandidat in Lorch) – Jean-Marc Petit (Hausbesitzer und Denkmalpfleger in Bacharach) – Anne Kauer (Winzerin in Bacharach) – Gerd Benner (Manager und Hobby-Köhler aus Boppard) – Markus Kramb (Metzger aus St. Goar) – Mary-Ann Gellner (Hauptkommissarin der Wasserschutzpolizei St. Goar) – Ilka Heinzen (Einzelhändlerin und Stadträtin in Bingen) – Jan Bolland (Hotel-Investor in Bingen) – Pater Eryk (Franziskaner im Kloster Bornhofen) – Mareike Knevels (Kommunikationsdesignerin und Burgenbloggerin) – Willy Praml (Theatermacher „An den Ufern der Poesie) – Sebastian Hamann (Beigeordneter der Stadt Bingen) – Johannes Lauer (Dachdeckermeister und Kommunalpolitiker in Lahnstein) – Almut Lager (Unternehmerin und Denkmalschützerin in Bacharach) – Maximilian Siech (Sportler und Projektleiter beim Zweckverband Welterbe) – Till Gerwinat und Lambert Lensing-Wolff (Unternehmer auf Burg Reichenstein) – Christiane Speth (Exil-Bopparderin und Udenhausen-Patriotin an der Schweizer Grenze) – Christian Albrecht (Feuerwehr-Profi aus Oberwesel) – Markus Kalkofen (Polizist und Landschaftspfleger aus Kamp-Bornhofen) – Lena Höver (Stadtmanagerin und Tourismus-Chefin in Oberwesel) – Klaus Zapp (Bürgermeister-Kandidat in Rüdesheim) – Walter Karbach (Autor und Verleger aus Oberwesel) – Heike Zimmer (Floristin und Krankenhaus-Kämpferin in Oberwesel) – Axel Strähnz (Arzt in Oberwesel) – Jens Voll (Kommunalpolitiker in Bingen) – Roger Lewentz (Innenminister des Landes Rheinland-Pfalz) – Arno Luik (Journalist und Bahnkritiker)
Termine des Tages
Burg Rheinstein – „Märchenhafte Weihnachtsburg“ – 15. Dezember, 12 – 19 Uhr. rhein-nahe-touristik.de
St. Goar-Biebernheim – Weihnachtsmarkt – 15. Dezember, 14 – 18 Uhr. st-goar.de
Festung Ehrenbreitstein – „Kostproben aus dem WeinReich Rheinland-Pfalz“ – 15. Dezember, 13 – 16 Uhr 30. tor-zum-welterbe.de
Boppard – „Lametta goes X-Mas“ / Travestie-Revue in der Stadthalle – 15. Dezember, 17 Uhr – boppard-tourismus.de
Festung Ehrenbreitstein – „Festungsvarieté – 15. Dezember, 19 Uhr 30. tor-zum-welterbe.de
Boppard – „Joker“ / Cinema in der Stadthalle – 15. Dezember, 20 Uhr. boppard-tourismus.de
Foto des Tages
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Heute gibt es beim Zweckverband Welterbe ein Schlemmerfrühstück für 2 im Hotel Schulhaus in Lorch zu gewinnen – Wispertal-Kenntnisse vorausgesetzt. Hier geht’s zur Quizfrage des Tages.
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