Christian Büning

Armut ist der beste Denkmalschutz?

Diesen Satz habe ich oft gehört, als die Mauer fiel und auf einmal mäßig bekannte Serienschauspieler anfingen, Häuser in Erfurt zu kaufen. Häuser aus der Gründerzeit oder von davor, innen und außen nicht gut in Schuss, aber alles original. Es gab kein Geld, um mit Laminat und Styrodur die Baukultur zu beerdigen, also ist außen noch der Kalkputz und innen noch die Fichtendielen. 

Man braucht schon etwas Fantasie, um in einem heruntergerockten Haus die verborgene Schönheit zu sehen. Ungefähr den gleichen Blick, wenn man einen Mastiff als Hund hat oder der Blick, mit dem das eigene Fahrrad wie ein Ding aus der Zukunft aussieht und nicht wie eine rostige, quietschende Foltermaschine, die nur den dritten Gang kann. Der Blick auf das Alte hat sich gewandelt. Der Gottvater der Architektur, Le Corbusier, wollte in seinem Gestaltungswahn ganz Paris abreißen und neu bauen lassen, um den dekorativen Firlefanz wie Stuck oder Ornamente endgültig zu entfernen. Alles sollte nüchtern und neu und modern sein und den neuen Menschen formen. Heute sind alle heilfroh, dass er sich nicht durchsetzen konnte. Gerade der Mix macht eine Stadt zur Stadt. Die verschiedenen Baustile nebeneinander, auch wenn sie nicht immer harmonieren. Kein Disneyland, sondern die Stein gewordene Reihe von Entscheidungen, mal mit Geschmack, mal mit Geld getroffen, mal mit beidem. 

Schmale Fenster raus, Aquarienfenster rein

Der Blick auf das Alte war nicht immer liebevoll, sondern eine ganze Reihe von Jahrzehnten lang eher etwas abschätzig. Altbauwohnungen sind hoch und lassen sich schlecht heizen, da wollte keiner wohnen. Denkmalschützer konnten nicht einmal »Aber …« sagen, da war das historische Fachwerk schon verputzt und die Fensterläden weg. Das Alte musste weg, das Neue war gut, weil es neu war. Am Mittelrhein gibt’s viel Altes zu sehen, teilweise sehr alt. Fundamente von römischen Häusern, als kleiner Hügel noch sichtbar unter Gras, aber eher schleppend in der Vermietung. Stadtmauern gibt’s oder auch einfach nur alte Wegführungen, auf denen schon seit ein paar tausend Jahren Menschen gehen und zur Seite spucken.

In der Wirtschaftswunderzeit war der Blick auf das Alte fast schon feindselig, man wollte es weghaben, um die dunkle Zeit und die Zeiten davor hinter sich zu lassen. Schmale Fenster raus, Aquarienfenster rein. Je größer, desto besser. Schiefer runter vom Dach, Kunstschiefer rauf. Schmale Gaube weg, Schleppgaube rein. In manchen Orten gab es am Mittelrhein sogar Überlegungen, die Stadtmauern abzutragen, um eine bessere Sicht auf den Rhein zu haben. Das Alte war lange nicht gut gelitten, man brauchte Platz und Luft und Licht, keine Geschichte. Die Armut war weg, man brauchte keinen Denkmalschützer. 

Es gab immer auch Leute, die das Alte mochten und darin die Kunstfertigkeit und gesammelte handwerkliche Erfahrung von Generationen sehen konnten. Eine Mauer, die sechshundert Jahre gerade stehen bleibt, ist eine gute Mauer. Eine Mauer, die nach vier Monaten Setzrisse bekommt und Salpeter ansetzt, ist keine gute Mauer. Das Alte hat schon eine harte Prüfung hinter sich: Die Zeit. Es hat überdauert und steht noch. 

Als Jugendlicher habe ich hin und wieder Leute beobachtet, die sich alte Holzbalken aus abgerissenen Häusern holten. Ich dachte mir, dass sie das aus Sparsamkeit täten, habe aber erst viel später verstanden, dass die alten Balken viel haltbarer sind. Die Bäume hatten mehr Zeit zum Wachsen damals, wurden zur richtigen Zeit gefällt und waren dadurch weniger anfällig für Fäulnis und Knabberlarven. Man hat die alten Häuser so gebaut, weil es sich als haltbar herausgestellt hat. Sie hatten den Filter Zeit überstanden.

Warum es Fenstersprossen gibt

Dann kamen der Spannbeton und der Kunststoff. Das neue Material kitzelte in den Fingern, es wollte benutzt werden, es ermöglichte neue Bauweisen. Man konnte auf einmal große Flächen überspannen und damit große Räume bauen. Mit Kunststoff und Bitumen konnte man Flachdächer abdichten und damit Häuser bauen, die tatsächlich keine Schrägen mehr hatten. Die neuen Möglichkeiten glitzerten auf dem Planungstisch und wurden begeistert in die Orte gebaut. Ganze Straßenzüge veränderten ihr Gesicht. Fenster hatten keine Stuckrahmen oder Fensterläden mehr, sondern sitzen jetzt einfach so in einem rechteckigen Loch in der Wand. Fenstersprossen waren mal notwendig, weil man Glas nicht so groß produzieren konnte. Heute braucht man sie eigentlich nicht. Aber Fenstersprossen geben dem Fenster auch eine Struktur und trennen das Außen und das Innen gefälliger. Mit den neuen Möglichkeiten wollte man aber nicht trennen, sondern verbinden. Fenster bis zum Boden, Glaswürfel und Wintergärten. Leben wie draußen, aber mit dem Komfort von drinnen. Volle Sicht, keine Mücken. 

In den 60ern und 70ern wurde viel erneuert und feste investiert. Es schmeckte nach Aufbruch, nach Wohlstand, nach Zentralheizungswärme überall im Haus und trockenen Kellern. Und doch fehlte den neuen Häusern meist etwas, so etwas wie Wärme oder Gemütlichkeit. Behaglichkeit ist auch so ein Wort, das die Schulterpartie entspannen lässt, hier vermutlich besser bekannt als Geheischnis. Um diese Lücke zu schließen, baute man geschwungene Dekorleisten an den Dachüberstand, Ketten an die Regenrinne und schmiedeeiserne Geländer an die Treppe zur Haustür. Man stellte Weinkisten aus Holz vor die Tür, um dem kalten eloxierten Aluminium etwas Patina zur Seite zu stellen. Die Orte wurden abwaschbarer.

Häuser als Geschichtenerzähler

Und doch gab es in vielen Orten Häuser, die sich dieser Umbauwelle entzogen und einfach so vor sich hin stehen, bis heute. Fachwerkhäuser, verputzte Fachwerkhäuser oder Klinkerbauten. Fenstersimse, Friese, Zierleisten und Gefache geben den Häusern ihr Gesicht und prägen den Ort um sie herum. In den Städten zogen junge Leute in die Altbauwohnungen. Erst ironisch, später begeistert. Sie heizten noch mit Kohleöfen und genossen die hohen Decken und die guten Grundrisse. Viele neue Möbel wurden im Altbau fotografiert, weil es sich gut verkauft und dann gabs kein Halten mehr. Altbauten stiegen im Preis und wurden fortan lieber saniert als ersetzt. Die Moderne war auf einmal nur noch als Möbel erwünscht in diesen Häusern, hier sollte ein anderer Geist wirken. Ein Geist ohne Kunststoff und Spannbeton. Stattdessen knarzen die Holzdecken und die frisch gestrichenen Kappendecken im Keller werden stolz präsentiert. 

In den Dörfern blieben oft die Häuser von der Moderne verschont, wo das Geld fehlte oder wo man einfach auf die Mode einen Schnurz gab. Mit den Augen von heute sind es meist kleine Schmuckstücke, die die Zeit überdauert haben, jetzt ihre Geschichte erzählen und damit auch ein Stück der Geschichte des Ortes. Das Haus gehört dann nicht nur seinen Besitzern, sondern irgendwie allen. Alle können sich dran freuen, alle können mit sich mit diesem Haus der Geschichte des Ortes vergewissern und damit ihre eigene Geschichte erzählen. Ja, so hat man vor 250 Jahren schon gebaut, da siehste mal. 

Der Keller unseres Hauses ist von ungefähr 1850. Ein Gewölbe aus Bruchstein, hier und da mit dem geflickt, was gerade da war. Ich sehe es in den Gesichtern der Gäste, wenn ich erzähle, wie alt der Keller des Hauses ist. Auch wenn oben drüber immer wieder umgebaut wurde, strahlt der Keller durch die Etagen nach oben. Der Keller hat sich über 170 Jahre bewährt, er trägt das Haus so lange schon, also ist er was besonderes. In den Gesichtern kommt ein Funke von Zufriedenheit auf, dass es etwas gibt, das schon so lange hält. Und dass sich damals Leute aufgerafft haben, um diesen Keller in den Boden zu wölben. Es stimmt irgendwie: Armut ist der beste Denkmalschutz. Aber Liebe zieht mehr als zehn Ochsen. 

Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist er Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!

Bisher erschienen:

Alles im Fluss (über Trennendes und Verbindendes)

KI im Datenstrom (wenn Künstliche Intelligenz auf Mittelrhein trifft)

Winterpause? (über eine unterschätzte Jahreszeit)

Mostmajestäten vom Mittelrhein (über eine verpassre Gelegenheit)

Römer macht schöner (über ein unterschätztes Weinglas)

Häuser mit Zukunft (Warum historische Ortskerne wieder modern werden)

Der Mittelrhein im Nebel (über Astronauten und Kirchtum-Politiker)

Was zur Hölle ist eigentlich Schiefer? (über das Mittelrheinischste aller Materialien)

Bis dahin fließt noch viel Wasser denn Rhein runter (über Hungersteine und Niedrigwasser)

Was macht die Welt mit der Loreley? (über das Image der bekanntesten aller Mittelrheinerinnen)

Was die Abladeoptimierung Mittelrhein mit einem wackligen Tisch zu hat (über die Vertiefung der Mittelrhein-Fahrrinne)

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Ein Dach ohne Gaube ist ein Irrtum (über das Paradies der Ecken, Winkel und Dachgauben)

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1 Gedanke zu „Armut ist der beste Denkmalschutz?“

  1. Wo er Recht hat, hat er Recht.
    Ich kann mich noch daran erinnern, das so ein selbsternannter Verschönerungsfanatiker über die Dörfer gezogen ist und hat Vorträge gehalten.
    Das die Straßen und Plätze mit Verbundsteinen gepflastert werde. Fenster vergrößert werden. 2 kleine ei Großes, Holzhaustüren gegen einbruchsichere Alutüren ausgetauscht werden. Und das alles sauber und aufgeräumt auszusehen hat. Dann wurde die Straße aufgerissen, Kopfsteinpflaster raus, Verbundsteine rein. Und weil die Firma gerade vor Ort war, haben meine Eltern da mitgemacht. Der Hof ist auch mit Verbundsteinen gepflaster worden. Zum Glück, Recht, Mitte und Links sind Blumenbeete angekegt worden. Alle haben das damal toll gefunden. Und jetzt müssen wir damit leben. Die Straße hat keine Begrenzung. Das Dorf hat seinen Charakter verloren. Alte Fachwerkhäuser mit 1,60 m breiten Fenster. Aber zum Glück ist die Schieferverkleidung noch drangeblieben.

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