Christian Büning

Alles im Fluss

Christian Büning. Foto: Privat

Idylle und Hauptverkehrsader, mediterrane Landschaft und Blaue-Bock-Kulisse, kulturgeschichte Größe und 60er-Jahre-Kitsch, Landleben und Großstadtnähe: Vieles ist paradox im Welterbetal und der größte Widerspruch scheint der Rhein selbst zu sein. Er verbindet Orte und trennt zugleich Ufer und Menschen voneinander. Aber wehe, wenn er weniger wird. Dann leidet das Bruttoinlandsprodukt und im Tal selbst stockt der Fährverkehr. Mittelrheingold-Kolumnist Christian Büning beschreibt, was der Fluss für uns alle bedeutet.

Wenn Leute unterwegs sind, dann werden sie irgendwann müde und setzen sich hin. Wenn das mit dem Sitzen länger dauert, nennt man das Ansiedeln. Menschen siedeln gerne. Kaum ist irgendwo etwas Gegend, schon kommen von links Leute ins Bild und siedeln sich an, bauen ein Trampolin auf und stellen Getränke kalt. Besonders gerne haben Menschen schon immer an Flüssen gesiedelt. Ist ja auch praktisch. Der Fluss bringt permanent frisches Wasser und nimmt Müll und Spargelwasser praktischerweise direkt mit. Und man kann schwere Dinge ganz bequem transportieren. Alle Kontinente der Erde wurden entlang der Flüsse besiedelt, auch wenn das in der Antarktis noch dauert. Der Fluss brachte die Menschen. 

Flüsse prägen die Sprache im Kopf

Das stetig fließende Wasser hat die Leute beeindruckt und natürlich die Sprache geprägt. Wer zum Beispiel Geld hat, ist flüssig. Wenn etwas gut vorankommt, dann fließt es. Oder es ist im Flow, wie man so sagt. Bitte vorsichtig sein. Dem erhabenen Gefühl, die Zeit über einer Tätigkeit zu vergessen, hat man ein Magazin mit dem Titel »Flow« gegenübergestellt, vor dessen Banalität ich nicht genug warnen kann– absolut überflüssig. Aber zurück zum Ein-Fluss der Flüsse auf die Sprache.  Wenn etwas sich gut erzählen lässt, ist es im Redefluss, viele Autor:innen hoffen mit panischem Blick auf die Tastatur auf den Schreibfluss. Es soll fließen, ja strömen. Denn Strom, Strom ist gut. Das Wunder der Elektrik war bei seiner Entdeckung mit Worten schwer zu beschreiben, es war fast magisch. Also nannte man diese neue Energie, die da durch die Leitung fließt nach dem, was man kannte, nach einem Strom. Heute kann man Strom im Strom gewinnen, also den Strom verstromen, solche Kapriolen schlägt die Sprache manchmal.

Flüsse haben nicht nur die gesprochene Sprache geprägt, sondern auch die Sprache im Kopf, das Denken. »Alles fließt« ist natürlich auf Platz eins der Flussweisheiten von Heraklit. »Du kannst nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen« – das ist auch schon ziemlich weise und wird gerne übernommen für andere Themen. Du kannst nicht zweimal den gleichen Garten besuchen, zum Beispiel, oder du kannst nicht zweimal den gleichen Wein trinken. Du kannst nicht zweimal die gleiche Redewendung benutzen. Man erkennt das Muster. 

Unser Jenseits ist das andere Rheinufer

Apropos nachdenken: Wo fließt das ganze Wasser eigentlich hin? Worin mündet das? An Mündungen hat der Mensch immer gerne Orte gebaut. Auch an den Orten, wo ein kleinerer Fluss in einen größeren fließt. Koblenz hat den Zusammenfluss sogar im Namen, aber auch an allen anderen Flußmündungen wurde fleißig gesiedelt. Die Lage ist zu lecker. Zwei Seiten sind abgesichert, man bekommt von zwei Oberläufen alles mit und kann irgendwann morgens wach werden mit der genialen Idee, einen Zoll zu erheben. Wozu diese Idee führt, kann man noch heute am Mittelrhein sehen. Der Fluss hat den Warenfluss angeregt und der Warenfluss hat den Geldfluss angeregt. Der Geldfluss musste gestaut werden, also hat man Burgen gebaut, als gäbe es Treuepunkte dafür. Wenn man so will, waren die Burgen die ersten Stromspeicher. Ohne Fluss gäb’s die ganzen Burgen nicht. 

Aber auch jenseits des schnöden Geldverdienens wartet ein Fluss. Styx heißt der Fluss, über den die Toten müssen, was der Altgriechologe mit »Wasser des Grauens« übersetzen kann. Man muss zwei Münzen für den Fährmann haben, sonst kommt man nicht rüber. Vielleicht gibt’s mittlerweile ja auch Fährfrauen, die Übergänge sind ja manchmal fließend. Das andere Ufer eines Flusses war lange Zeit schwer erreichbar und konnte daher super gut als Metapher für das Jenseits herhalten. Am Mittelrhein ist das immer noch so mit dem Wasser des Grauens. Man sieht das andere Ufer und kann sogar die Nummernschilder der heiß geliebten Motorräder auf der anderen Seite lesen, aber man kommt nicht rüber. Das Jenseits ist unerreichbar, es sei denn, man hat zwei Münzen für den Fährmann. Oder ein 49-Euro-Ticket, aber das ist mythologisch noch nicht so richtig erfasst. 

Wo wir gerade bei Mythen sind. Flüsse sind eine wahre – festhalten! – Quelle für Mythen. Die Nibelungensage, Rheingold, Flussgeister, Nymphen bis zur Loreley, geht alles nur mit Fluss. Der Fluss wurde zur Person gemacht, als Vater oder als Gott gesehen. Er – natürlich er – hatte einen Willen und hat das Verhalten der Menschen bewertet, bis hin zur Wut. Was Menschen halt so erzählen, bevor sie endlich zugeben, dass sie es auch nicht besser wissen. Leider haben wir im Rhein keine rosa Flussdelphine oder Seekühe. Wer weiß, was wir heute sonst für Sagengeschichten hätten. 

Ein dünnes Rinnsal ist ein dickes Schicksal

Flüsse haben Menschen aber auch abseits der Mythen immer herausgefordert und die Neugier geweckt. Wo kommt das Wasser eigentlich her, das hier immer so fließt. Und warum ist es manchmal grün, manchmal blau, manchmal braun? Die Entdeckung der Flussquellen war im 19. Jahrhundert ein beliebter Sport in betuchteren Kreisen und es gab erbitterte Schlachten darüber, welcher der gefundenen Quellflüsse denn der eigentliche, der richtige, der einzig wahre Quellfluss ist. Beim Rhein hat man sich schließlich einigen können, man musste nur einige Male sehr genau nachmessen und fand als Quelle den Fuß eines Gletschers. Wenn man Gletscher als Flüsse aus Eis betrachtet, wird ein Fluss also von einem Fluss gespeist und so bleibt alles im Fluss. Die Flüsse haben das Denken ins Fließen gebracht. 

Die Leute, die die Quellen von Flüssen gesucht haben, haben sich auch gefragt, wie das Wasser in die Berge kommt und so ganz nebenbei das Klima entdeckt. Heute weiß man, dass es auch Flüsse am Himmel gibt. Über dem Amazonas ist einer. Die hohe Luftfeuchte sammelt sich in bestimmten Bahnen und bringt Wasser über weite Strecken ins Landesinnere. Humboldt hat da einiges beigetragen und noch heute heißt ein Fluss nach ihm. 

Der Umgang mit Flüssen hat sich stark gewandelt mit den Jahren. Bereits im Mittelalter haben manche Flussbereiche bei Gerbereien abscheulich gestunken. Manche Flüsse waren auch damals schon ziemlich verdreckt. Man hat das nicht so energisch bekämpft, es gab ja viel weniger Menschen und es kam ja genug sauberes Wasser nach. Bis es halt immer mehr Orte an Flüssen gab, die ihre Abwässer loswerden wollten und jeder Ort die Abwässer von einem anderen Ort vor Augen hatte– und in der Nase und nachher auch im Topf. Das war die Geburtsstunde der Kläranlagen und der Rieselfelder. Flüsse regen zu viel Gutem an. Die Pflege der Flüsse kommt nicht zu früh. Heute fallen immer mehr Flüsse im Sommer trocken oder sie haben zu wenig Wasser. Es fließt nicht mehr, es rinnt eher. Und ein dünnes Rinnsal ist ein dickes Schicksal. Hoffen wir, dass alles im Fluss bleibt. 

Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist er Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!

Bisher erschienen:

KI im Datenstrom (wenn Künstliche Intelligenz auf Mittelrhein trifft)

Winterpause? (über eine unterschätzte Jahreszeit)

Mostmajestäten vom Mittelrhein (über eine verpassre Gelegenheit)

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Häuser mit Zukunft (Warum historische Ortskerne wieder modern werden)

Der Mittelrhein im Nebel (über Astronauten und Kirchtum-Politiker)

Was zur Hölle ist eigentlich Schiefer? (über das Mittelrheinischste aller Materialien)

Bis dahin fließt noch viel Wasser denn Rhein runter (über Hungersteine und Niedrigwasser)

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Eine Ziege, ein Kohl und ein Wolf (über Brücken und Fähren)

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