Christian Büning

Häuser mit Zukunft

Kein Vorgarten, kein Zaun, keine Garage: Mitten in einer Rheintalgemeinde zu wohnen galt jahrzehntelang als unmodern. Das freistehende Haus mit mindestens einem Auto unterm Dach war das Vorort-Ideal der alten Bundesrepublik. Bis jetzt, aber das ändert sich gerade. Der kommenden Generation Hausbesitzer sind andere Dinge wichtig. Sie braucht keine Statussymbole aus Beton oder Blech. Sie mag kurze Wege zum nächsten Bahnhof und sie teilt sich Autos, statt sie zu kaufen. Für die Zukunft des Mittelrheintals sind die „Millennials“ eine große Chance, findet Mittelrheingold-Kolumnist Christian Büning.

Christian Büning ist Designer (Büro Büning, Werkstoff Verlag), Mittelrheiner mit westfälischem Migrationshintergrund und Kolumnist bei Mittelrheingold. Foto. Privat

Wenn man wie ich im Münsterland aufwächst, muss man zwar auf die Nähe zum Rhein verzichten, aber dafür kennt man manche andere Probleme gar nicht, die hier allgegenwärtig sind. Eines davon ist das Platzproblem. Wenn es in einem Dorf im Münsterland zu eng wird, dann fragt man einen der umliegenden Landwirte, ob er ein Feld hergibt für ein Baugebiet, der Landwirt legt sich dann lachend in die Sonne, ruft seine Erben an, gibt einen Wintergarten in Auftrag und anschließend ist das Platzproblem gelöst. Platz ist genug da, die Dörfer wachsen einfach in die Fläche. Das ist am Mittelrhein oft nicht möglich. Der Rhein hat sich Platz geschaffen im Fels, allerdings nur für sich selbst. An Baugebiete hat er nicht gedacht. Daher sind die Orte direkt am Rhein durchgehend sehr eng bebaut, die Häuser sind schmal, dafür hoch. 

Dazu kommt, dass viele dieser Häuser gebaut wurden, als die Erfindung des Autos noch in weiter Ferne lag. Die Mutter von Carl Benz war noch nicht mal ein junges Mädchen, als hier viele Straßenzüge errichtet wurden. So wie wir heute Häuser bauen, die keine Landeplätze für Lieferdrohnen mitgeplant haben, haben die Häuser damals keinen Platz für Autos mitgeplant. Keine Garage, keinen Vorplatz, nichts. Einfach, weil keiner ahnen konnte, dass irgendjemand auf die Idee kommen würde, die Pferde von der Kutsche abzuschnallen und stattdessen einen Motor zu erfinden.

Abgesehen davon waren Autos die ersten Jahrzehnte lang noch unerschwinglicher Luxus, man plant ja auch nicht auf Verdacht einen Stellplatz für die Motoryacht, wenn man sich sein Zuhause vorstellt – in der Hoffnung, dass unfassbarer Reichtum auf einmal zu einem kommt. Dann kam der Siegeszug des Autos durch alle Gesellschaftsschichten und Häuser ohne Garage waren sehr schnell so attraktiv wie das einzige Stück Torte ohne Kirsche. Das Auto ist heute so tief im Alltag verwachsen, dass man ein Haus sogar nur bauen darf, wenn man einen Stellplatz für ein Auto nachweisen kann. Man darf ohne Auto nicht wohnen. So blieb es für fast eineinhalb Jahrhunderte.

Das Leben nach dem Auto-Zeitalter

Dann kamen die Millennials. Das sind alle, die um die Jahrtausendwende geboren sind und jetzt langsam ins Berufsleben drängen. Personaler in Unternehmen sind oft einfach nur sprachlos, weil die Ziele der Millennials so grundsätzlich anders sind als die der Generation Y, X und denen davor, die nicht mal einen eigenen Generationsnamen haben, nur gemeinsame Showmaster. Also Generation Harry Wijnvoord, Generation Dieter Thomas Heck und so weiter. Die Millennials lassen sich einfach nicht damit locken, dass sie 70 Stunden in der Woche für jemand anderen arbeiten und als Ausgleich ein Kicker und Golden Delicious bereitgestellt werden.

Millennials wollen es anders. Sie wollen die Trennung von Arbeitsleben und Freizeit nicht in vordere und hintere Lebenshälfte teilen, sie wollen es jetzt schon mischen und vor allem keinen Burnout. Millennials wollen nicht eisern durchmarschieren und später genießen, sondern von Anfang an richtig balancieren. Sie lassen sich eher mit einer Vier-Tage-Woche locken als mit einem Dienstwagen. Das sieht auf den ersten Blick manchmal nach Flucht vor Verantwortung aus, ist aber am Ende das, was junge Leute immer gemacht haben: sie machen es anders. 

Anders bedeutet, dass in allen Lebensbereichen andere Maßstäbe gelten. Beim Essen, in der Liebe und sogar beim Auto. Für viele Generationen war klar: Erwachsen ist man nicht mit 18, sondern wenn man den Führerschein hat. Meist fielen diese beiden Ereignisse auf den gleichen Tag, um endlich auf der Landstraße in den Sonnenuntergang fahren zu können.  Würde man aus einer beliebigen Tatort-Folge alle Szenen herausschneiden, wo die Kommissare im Auto sitzen, aus dem Auto aussteigen, mit der Hand auf dem Autodach ihre Gedanken zusammenfassen oder im Auto ohne zu Kleckern mit unterschiedlichem Erfolg essen: Die Tatortfolgen wären nur halb so lang. Das Auto ist so fest im Alltag verwachsen wie eine Rebe im Schiefer. Das hält. Und dann kommen die Millennials, die sagen, dass ihnen ein Führerschein gar nicht so wichtig ist. In meiner Generation haben über 90 Prozent einen Führerschein gemacht, jetzt sind es deutlich weniger. 

Für viele gehörte zum Erwachsenwerden dazu, sich für eine Automarke zu entscheiden. Bin ich der schnittige BMW-Typ mit Brillantine in den Haaren und hochgestelltem Poloshirt-Kragen? Oder eher der Saab-Typ mit runder Nickelbrille und Vanilleduftbaum am Spiegel? Mit der Automarke konnte man sich präsentieren und seine Haltung zeigen. Es war vollkommen klar, dass man diese Entscheidung sein Leben lang nicht mehr ändern konnte. Noch nie hat jemand seinen Maserati verkauft und stattdessen einen Ford Fiesta als richtigen Ausdruck für sich gewählt. In Deutschland ist die Wahl der Automarke fast noch wichtiger als die Wahl des Lebenspartners, ja sie hängen sogar voneinander ab. Mercedesfans heiraten Mercedesfans. Opeljünger bleiben unter sich, nur VW ist der graue Pulli, der fast überall passt. Die Wahl des Autos hatte etwas Heiliges, so als ob man in einem magischen Ritual im Wald sein inneres Krafttier findet. Dein Auto ist ein Teil von dir, du bist das Auto. Und dann kamen die Millennials. 

Es gibt keine Garagen und die Millennials brauchen auch keine

Sie sagen, dass ein Auto ein Vehikel ist, um mobil zu sein. Mehr nicht. Komfort ist ok, aber der ganze Persönlichkeitskult um das gestanzte Blech herum ist Firlefanz, den sich Leute in Werbeagenturen mit Kickertischen und Golden Delicious ausdenken. Dafür haben Millennials keine Zeit und keine Energie. Ein Auto zu haben ist nicht wichtig. Ein Auto nutzen zu können hingegen schon. Daher sind Carsharing-Programme für Millennials genau die richtige Lösung. Sie müssen sich nicht um Winterreifen, ASU oder TÜV kümmern, sondern können einfach ein Auto nutzen und für die Benutzung bezahlen. Das hat den schönen Nebeneffekt, dass die Carsharing-Autos viel mehr genutzt werden als ein Auto im Privatbesitz, das oft über 95 Prozent seines Lebens herumsteht. Eigentlich sind es Stehzeuge, keine Fahrzeuge. 

Zurück zu den eng bebauten Häusern am Mittelrhein ohne Garage. Wenn jetzt immer mehr Millennials unter uns weilen, die ihre Persönlichkeit dadurch ausdrücken, dass sie sich eben nicht für eine Automarke entscheiden, sondern für alle Marken gleichzeitig, indem sie Carsharing machen, dann haben Häuser ohne Garage auf einmal eine ganz andere Perspektive. Millennials brauchen keine Garage mehr, sie teilen sich in der Straße mit zehn Haushalten drei Autos, die immer irgendwo Platz finden, zur Not am Rheinufer. Die Farbe, die Marke, der Hubraum, das ist so irrelevant wie die Wettervorhersage für erfahrene Winzer. Am besten sind mehrere Größen von Autos da, je nachdem, ob man nur jemanden besuchen fährt oder einen Kleiderschrank abholen will. Die Millennials bewerten das Auto anders und das ist ein Glücksfall für die Bebauung am Mittelrhein. 

Nähe spart Geld und Energie

Die Straßen mit den schmalen Häuschen, eins neben dem anderen, so wie Bücher im Regal, diese Straßen sind genau genommen die Wohnbebauung der Zukunft. Im Vergleich zu freistehenden Häusern sparen die Reihenhäuser viel Energie, auch der Flächenverbrauch hält sich in Grenzen und wenn’s gut läuft, fördert diese Bebauung auch eine gute Nachbarschaft. Wenn nicht, kann man sich wenigstens nicht gegenseitig in die Fenster gucken. Die Reihe zur Straße ist geschlossen und schirmt einen Innenhof ab, der nur für die Bewohner ist. Eine kleine private Insel. Die Autos stehen weiter weg, wo sie nicht im Weg stehen und nehmen in den Häusern keinen Platz weg. Aus dem jahrelangen Nachteil wird auf einmal ein klandestiner Vorteil. Das darf jetzt bloß keiner den ganzen Millennials erzählen, sonst plündern sie alle ihr Sparbuch, das ihre Eltern ihnen für ein Auto eingerichtet haben, und machen sich auf, am Mittelrhein in die Wohnform der Zukunft zu investieren. 

Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist er Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!

Bisher erschienen: 

Der Mittelrhein im Nebel (über Astronauten und Kirchtum-Politiker)

Was zur Hölle ist eigentlich Schiefer? (über das Mittelrheinischste aller Materialien)

Bis dahin fließt noch viel Wasser denn Rhein runter (über Hungersteine und Niedrigwasser)

Was macht die Welt mit der Loreley? (über das Image der bekanntesten aller Mittelrheinerinnen)

Was die Abladeoptimierung Mittelrhein mit einem wackligen Tisch zu hat (über die Vertiefung der Mittelrhein-Fahrrinne)

Blühende Schleifenlandschaften – die heimliche Blume von Boppard (über Iberis linifolia subsp. boppardensis und was man damit anstellen könnte

Lonely Places oder die heimlichen Stars am Mittelrhein (über Orte, die selbst Einheimische nicht kennen)

Gänse im Anmarsch (über die nervigsten aller Mittelrhein-Touristen)

Grenzenlos gut (über eine Mittelrhein-Grenze, die jederzeit ignoriert werden muss)

Ein Dach ohne Gaube ist ein Irrtum (über das Paradies der Ecken, Winkel und Dachgauben)

Was ist schon Zeit? (über Zugfahren am Mittelrhein)

Eine Ziege, ein Kohl und ein Wolf (über Brücken und Fähren)

Gude, Moin und Guten Tag (über die Kunst des richtigen Grüßens)

Foto des Tages

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Klaus Nägler (@klaus_naegler)

Jetzt den Mittelrheingold-Newsletter abonnieren

Mittelrheingold Auslese: Jeden Freitag die wichtigsten Mittelrhein-Themen auf einen Blick. Hier geht’s zum kostenlosen Abo