Christian Büning

Mittelrhein statt nur dabei: Ein Dach ohne Gaube ist ein Irrtum

Die meisten Dächer wirken so glatt und zweckmäßig wie die Deckel von Tupperwarendosen. Außer im Mittelrheintal, dem Paradies der Ecken, Winkel und Dachgauben. Mittelrheingold-Kolumnist Christian Büning erklärt, warum Dächer ohne Gauben möglich aber sinnlos sind. 

Christian Büning ist Designer (Büro Büning, Werkstoff Verlag), Mittelrheiner mit westfälischem Migrationshintergrund und Kolumnist bei Mittelrheingold. Foto. Privat

Mit einem Dach fing die Zivilisation des Menschen an. Was in Höhlen begann, wurde schnell etwas zu eng und es war auch schlecht gedämmt. Bald wurden Dächer gebaut und wie es so ist, wenn Menschen was machen: sie fangen an zu dekorieren. Lange Zeit war ein Dach auch ein Statement. Menschen haben sich alle möglichen Dächer ausgedacht – Satteldächer, Walmdächer, Pultdächer, Flachdächer bis zum Schleppdach. Die wahre Heimat der Dachformen ist aber der Mittelrhein.

Als Münsterländer kenne ich Dächer von Bauernhäusern, so groß wie ein Marktplatz. Die gesamte Dachfläche eine große, durchgehende rote Fläche von Dachpfannen. Im Inneren des großen Hauses ist es eher dunkel, es gibt keine Durchbrüche, durch die Licht kommen könnte. Dachflächenfenster gibt es ja noch nicht so lange. Das hatte alles sicher praktische Vorteile. Diese Dächer haben keine komplizierten Ecken, die undicht werden, die Photovoltaik-Anlage passt genau drauf und bei Satellitenaufnahmen hat man ein schönes rotes Rechteck. Aber insgesamt sind solche Dächer halt auch etwas monoton. 

Die Dächer am Mittelrhein sind anders. Ein Dach ohne Gaube ist hier einfach so unvorstellbar wie ein Glas Wein, das genau bis zum Eichstrich eingeschenkt wird. Sprichwörtlich jedes Dach am Mittelrhein hat mindestens eine Gaube oder zumindest einen kleinen Giebelvorsprung, der als Gaube durchgehen könnte. Ein einfaches Satteldach ohne alles wäre am Mittelrhein eine offene Kriegserklärung an den guten Geschmack mit nicht absehbaren Folgen. 

Das hat sicher auch mit dem Material zu tun, mit dem die Dächer gedeckt sind. 

Der Schiefer ist eine sehr flexible Dacheindeckung und macht jede noch so kleine Gaubenform locker mit so wie der Schuppenpanzer einer Eidechse. Daher gibt es überall Gauben, die so verspielt und putzig klein sind, dass sie von weitem aussehen, als hätte jemand seinen Ritterhelm auf dem Dach vergessen. Das Material macht es möglich. 

Mitten im Rhein steht die Burg Pfalzgrafenstein, die im Laufe der Jahrhunderte dieses Möglichmachen mitmachen durfte. Die ursprünglich einfachen Dachformen wurden nach und nach mit Spitztürmchen, Gauben, Nebengauben, Vorgauben und sogar einer kleinen Klogaube versehen. Das Dach ist heute kein profaner Regenschutz für die Zöllner, sondern eine prunkvolle Demonstration, dass man mit Zolleinnahmen auf dem Rhein eine Weile sehr gut verdient hat und eine Schwäche für verspielte Dachformen hat. Ein deutliches Gaubensbekenntnis. 

Gauben sind nicht nur von außen hübsch anzusehen, sondern machen auch von innen eine ganz eigene Atmosphäre. Ein Raum mit einer Gaube hat sofort einen gemütlichen Punkt, einen Ort mit großer Anziehungskraft. Dort will ich meinen Lesesessel aufstellen und mit einem Roman in der Hand versuchen, nicht einzuschlafen. Wenig wertet einen Raum dermaßen auf wie eine Gaube, außer vielleicht zwei Gauben oder besser noch drei. Dann könnte man auch zwei oder drei Sessel stellen. Warum werden diese kleinen Gauben eigentlich nicht mehr gebaut? Der Grund, warum jedes Jahr über 5 Millionen Gäste an den Mittelrhein kommen, sind vermutlich nicht die zweckmäßigen, tupperwarelangweiligen Gauben von heute, sondern die herzergreifend unpraktischen Gauben der Jahrhunderte davor. Die Lust am Rausgucken, die Lust am Ornament und die Lust an urgemütlichen Räumen hinter den Fensterchen, das können nur Gauben. 

Gauben gehören zu den Häusern hier, aber auch in die Sprache. In vielen Gauben ist oben ein kleines Loch. Das dient zur Belüftung, aber auch für Käuze als Einstieg, um auf dem Dachboden die Mäuse in Schach zu halten. Ein Loch in der Gaube, ein Gaubloch. Oder Goubloch eher. Ich übe seit Jahren, das hiesige Wort Gaubloch korrekt auszusprechen. Das »au« wird eher wie »ou« ausgeprochen, das trifft es aber nicht ganz. Irgendwo zwischen »ou« von Soul und dem »O« von Onkel, gemischt mit einem leicht jazzigen »u«. Das Wort Gaubloch ist der ultimative Einbürgerungstest. Ich spreche es aus – und werde prompt korrigiert. Wer das Wort Gaubloch richtig schwätze kann, ist hier angekommen. Ich übe und übe in meinem Zimmer mit Gaube, in meinem Lesesessel und versuche, dabei nicht gemütlich einzuschlafen..

Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist regelmäßiger Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!

Bisher erschienen:

Was ist schon Zeit? (über Zugfahren am Mittelrhein)

Eine Ziege, ein Kohl und ein Wolf (über Brücken und Fähren)

Gude, Moin und Guten Tag (über die Kunst des richtigen Grüßens)

Foto des Tages

 

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