Christian Büning

Winterpause?

Was war zuerst da: die Winterpause oder die geschlossenen Lokale? Christian Büning erklärt die mittelrheinische Variante des Henne-Ei-Problems, die er regelmäßig am Oberweseler Marktplatz beobachtet – jeden Tag von O bis O, von Oktober bis Ostern.

Von O bist O ist zu. Von Oktober bis Ostern verabschiedet sich ein großer Teil der gastronomischen Betriebe in die Winterpause. Ferienwohnungen, Restaurants, Museen und viele andere drehen den Schlüssel um, heizen zu Hause den Kachelofen an und widmen sich Romanen, Silikonnähten oder machen heimlich Raclette-Yoga. Diese Winterpause ist vermutlich ein Relikt aus dem Tourismus der 70er und 80er Jahre, bei dem in der Sommersaison viel los war, bei den Weinfesten die Keller leergesoffen wurden und danach alle so erledigt waren, dass keiner mehr kam und keiner mehr konnte. Als Kind der 80er Jahre muss ich leider zugeben, dass diese Zeit schon eine Weile her ist. Es hat sich ein bisschen was geändert. Die Arbeitswelt ist flexibler geworden und damit einhergehend ist die Urlaubsplanung nicht mehr so eng an Erntezeiten gebunden. 

Dazu kommt noch, dass Hape Kerkeling mit einem Tinnitus in den Ohren vor etwa 20 Jahren seine Wanderschuhe überzog und loslief. Er lief nicht nur seinem Bluthochdruck davon, sondern er löste auch einen wahren Wanderboom aus. Alle erinnerten sich, dass sie ja auch Wanderschuhe irgendwo hinter der Skiausrüstung stehen hatten und dass die Wegstrecken der Kindheit durch Nadelwälder und über grüne Hügel doch nicht so schlimm waren. Kurz: Nicht nur die Deutschen schwangen den Stock und wanderten, auch die Touristen ließen sich anstecken von der Wanderlust. Überall entstanden neue Wege wie der Rheinsteig oder der Rhein-Burgen-Weg.

Es braucht nicht so viel zum Wandern, ehrlich gesagt. Eine schöne Route, einigermaßen trittfeste Wege mit schönen Aussichten und hier und da etwas Infrastruktur wie Unterkünfte, Restaurants oder kleine Geschäfte. Ein buntes Zeichen, dass auf Baumstämme gepinselt wird und jemand, der gelegentlich die Brombeeren in die Schranken weist und die Wege frei hält.

Es dauerte nicht lange und Wandern ist typisch Deutsch geworden. Typisch Deutsch halt mit einem gewissen Ernst und etwas Schmerz muss auch dabei sein, aber halt auch mit einer Leidenschaft für gutes Schuhwerk und möglichst wenig Digitalisierung, weil ja kein Netz da ist. Das hatten wir ja schon früher an dieser Stelle.

Einfach mal stehenbleiben

Wandern ist der Gegenentwurf zu Sportarten wie Surfen oder Paragliding – man braucht fast keine Ausrüstung. Zwei Beine haben die meisten zur Hand und fertig ist der Wanderer. Das Tempo beim Wandern ist gemächlich, aber stetig. Perfekt für ein Lebewesen, dass über Jahrtausende sein Essen zu Fuß suchen musste und erst seit sehr kurzer Zeit über Sofas und Internet verfügt. Beim Wandern kommt der ganze Körper in einen Rhythmus, ein sanftes Schaukeln wie ein Dromedar. Die Schrittgeschwindigkeit reguliert sich selbst und nach ein paar Kilometern hat man sein perfektes Tempo gefunden. Wenn die Aussicht es verlangt, kann man einfach stehen bleiben. Man braucht keinen Parkplatz und muss nichts abschließen. Einfach stehen bleiben, die Hände in die Hüfte stemmen, leiser schnaufen als der neben dir und die Aussicht genießen. 

Der Trend zum Wandern hat sich auch in der Mode bemerkbar gemacht. Outdoor heißen die Regale, oder Trekking. Die Kleidung ist perfekt abgestimmt. Sie wärmt, wiegt so viel wie eine Scheibe Toast und trocknet nach der Wäsche in 4 Minuten. Mittlerweile gibt es Outdoorbekleidung zum Glück auch in etwas zurückhaltender Optik. Sicher: Wenn ich in eine Schieferspalte rutsche, möchte ich nicht Schiefer- oder Moosfarbene Kleidung tragen, sondern neonpink oder neongelb. Aber für alle anderen Momente, in denen ich nicht in der Schieferspalte liege, möchte ich einigermaßen kultuviert gekleidet sein und dazu gehört für meinen Geschmack halt einfach deutlich weniger Neonorange. Auch das gibt es mittlerweile in großer Auswahl. Sogar die Wanderschuhe sind keine klobigen Lederschraubzwingen mehr, die sich erst nach 1000 Kilometern an den Fuß anpassen sondern leichte, wasserdichte, stabile und stützende Fußschmeichler. Bis auf meine alten Wanderschuhe, bei denen einfach die Sohle irgendwann liegen blieb und ich ein paar Schritte weiter lief bis ich humpelnd merkte, dass etwas nicht stimmt. 

Die Wege sind bereits da und beschildert, der Trend ist eindeutig pro Wandern, auch die Wanderkleidung ist mittlerweile ansprechender als Hochseebojen – es spricht also alles fürs Wandern. Bleibt nur das Wetter: Da sind Wandersleute relativ hart im Nehmen. Sie laufen bei leichtem Frost und bei großer Hitze. Nach leichtem Frost greifen sie nur eher zum Glühwein und nach großer Hitze doch zum Hefeweizen. Zufälligerweise ist unser Klima im Mittelrhein genau zwischen leichtem Frost und großer Hitze angesiedelt. Die Medium-Bereiche mit angenehmer Lauftemperatur sind sogar ziemlich ausgedehnt vom Spätwinter bis zum Frühsommer und vom Frühherbst bis zum Spätwinter. Und dazwischen wandern nur die Harten. 

Es sind Gäste da und trotzdem ist Winterpause

Mein Schreibtisch steht so, dass ich den Marktplatz gut im Blick habe. Und was soll ich sagen: Die Leute wissen das alles längst mit dem guten Wanderwetter, der Outdoorbekleidung und den beschilderten Wanderwegen. An normalen Tagen sind es einige, an guten Wochenenden sprichwörtlich Dutzende. Zweiergruppen, kleine Gruppen, Familien mit maulenden Kindern, Freundeskreise, Rentnergrüppchen in elegantem Silber, sie sind schon längst da und wandern am Mittelrhein herum, was die Wege hergeben. Bis sie von einer Tour zurück in die Orte kommen, umständlich die Lesebrille rausholen und den laminierten Aushang vor der Gaststätte lesen. Geschlossen bis März. Hier kein Hefeweizen, hier kein Essen. Bitte kommen Sie in einem anderen Leben wieder. Schleich Di! 

Das Henne-Ei-Problem ist ein Rätsel, mit dem man zuverlässig Kinder in den Wahnsinn treibt. Was war zuerst da: Das Huhn oder das Ei? Es ist nicht zu beantworten (auch wenn Evolutionsbiologen jetzt feste mit den Händen wedeln und eine Theorie haben). Unsere Wanderer treibt das Henne-Ei-Problem ebenfalls in den Wahnsinn. Ist Winterpause, weil keine Gäste da sind oder sind keine Gäste da, weil Winterpause ist? Das Witzige ist: Es sind im Winter Gäste da und es ist trotzdem Winterpause. 

Die Wanderwege sind von Oktober bis Ostern gut besucht, außer wenn es tagelang Hunde und Katzen regnet. Ein paar schöne Tage und der Wandertrieb erwacht, Urlaubsanträge werden eingereicht, Schuhe imprägniert und Rheinkilometer erklommen. Das Wort Saison geht zurück auf das lateinische satio, was mit säen übersetzt werden kann. Früher konnte man Kopfsalat nur im Frühjahr säen. Heute gibt es diese Begrenzungen nicht mehr, Kopfsalat wird das ganze Jahr über angesät. Die Saison ist fast Geschichte. Natürlich sind Leute mit Schulkindern an die Ferien gebunden, aber es gibt genügend andere, die so unabhängig von der Saison leben wie ein „Bild“-Redakteur von der Recherche. Die Wege sind da, die Leute sind auch da, die Saison ist mittlerweile dabei. Aus O bis O würde ich daher liebend gerne ein von B bis B machen. Von Bingen bis Bonn, das ganze Jahr. Geöffnet. 

Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist er Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!

Bisher erschienen:

Mostmajestäten vom Mittelrhein (über eine verpassre Gelegenheit)

Römer macht schöner (über ein unterschätztes Weinglas)

Häuser mit Zukunft (Warum historische Ortskerne wieder modern werden)

Der Mittelrhein im Nebel (über Astronauten und Kirchtum-Politiker)

Was zur Hölle ist eigentlich Schiefer? (über das Mittelrheinischste aller Materialien)

Bis dahin fließt noch viel Wasser denn Rhein runter (über Hungersteine und Niedrigwasser)

Was macht die Welt mit der Loreley? (über das Image der bekanntesten aller Mittelrheinerinnen)

Was die Abladeoptimierung Mittelrhein mit einem wackligen Tisch zu hat (über die Vertiefung der Mittelrhein-Fahrrinne)

Blühende Schleifenlandschaften – die heimliche Blume von Boppard (über Iberis linifolia subsp. boppardensis und was man damit anstellen könnte

Lonely Places oder die heimlichen Stars am Mittelrhein (über Orte, die selbst Einheimische nicht kennen)

Gänse im Anmarsch (über die nervigsten aller Mittelrhein-Touristen)

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Was ist schon Zeit? (über Zugfahren am Mittelrhein)

Eine Ziege, ein Kohl und ein Wolf (über Brücken und Fähren)

Gude, Moin und Guten Tag (über die Kunst des richtigen Grüßens)

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