Haben wir am Mittelrhein zu viele Touristen, zu viele Ferienwohnungen und zu wenig Platz für Einheimische? So klingt es in einer SWR-Reportage. Eine steile These, findet Mittelrheingold-Kolumnist Christian Büning: „In einer strukturschwachen Region, in der der Tourismus eine der wenigen konstanten Einnahmequellen ist, ist es schon ein gewagter Stunt, den Tourismus madig zu reden.“ Hier erklärt er, warum Ferienwohnungen am Mittelrhein nicht das Problem sind, sondern Teil der Lösung.
Ich hab mich angestrengt, aber die Pyrenäen haben auch bei genauerem Hingucken relativ wenig mit dem Mittelrhein gemeinsam. In den Pyrenäen gibt es echte Berge, viel mehr Rotwein, definitiv keinen Rhein, aber ein ganz ähnliches Problem: sterbende Orte. Eines der Bergdörfer drohte sogar komplett leer zu fallen, bis eine entschlossene Gruppe der Enkelgeneration sich entschied, aus den idyllisch gelegenen Bruchsteinhäusern äußerst charmante Gästehäuser zu machen. Der Erfolg haute sie um, heute ist das Dorf ein absoluter Hotspot und die Gäste bringen Geld in den Ort. Es lohnt sich sogar wieder für ein paar Leute, dort dauerhaft zu wohnen, weil ja immer was zu tun ist. Es gibt tatsächlich wieder Kinder im Ort.
Wenige hundert Kilometer entfernt sieht es ganz anders aus. In Barcelona stehen die Menschen auf der Straße und demonstrieren mit Wasserpistolen und Schildern gegen – ja, genau: diese Touristen. Es sind einfach zu viele, jede freie Wohnung in der Stadt wird zu einer Ferienwohnung. Mit Airbnb kann man locker das vielfache einer normalen Monatsmiete einnehmen. Die Barcelonesen haben das Nachsehen, finden keine Wohnung mehr und stolpern überall über Touristen, die einfach so abrupt stehen bleiben und nach oben gucken. Die ganzen Fußgänger hinter ihnen laufen in sie rein wie in einem Stummfilm. Unpraktisch, auf die Dauer. Viele Städte können da mitreden. Der Segen der Touristenströme wird schnell zum Fluch für die Einwohner. Amsterdam hat sogar seinen genialen und beliebten Schriftzug „I amsterdam“ abgebaut, weil die ganzen Selfiewütigen die Straßen jeden Tag aufs Neue verstopft haben.
Kein Übertourismus, eher ein Unterbewohnen
Irgendwo zwischen diesen beiden Extremen – kompletter Leerstand und hoffnungsloser Übertourismus – liegt wohl der Mittelrhein. Augenscheinlich etwas eher bei ersterem. Es sind die Kunstblumen in den Fenstern, die den Leerstand verraten. In allen Orten (Koblenz bitte kurz weghören) gibt es Häuser mit Kunstblumen und gilben Gardinen, die darauf warten, wachgeküsst zu werden. Sie wollen geweckt werden aus einem langen Schlaf und kommen aus einer Zeit mit komplett anderen Wohnansprüchen. Der Durchschnittsdeutsche lebt heute auf der doppelten Fläche wie noch vor 40 Jahren. Wir haben gerne Platz, wir haben auch gerne eine Garage am Haus. Und am besten noch einen Garten am Haus. Das wird am Mittelrhein schon als Paket schwierig. Also stehen die Häuser leer und sammeln innen den Staub und außen die Spinnweben am Putz. Von den Problemen wie in Barcelona keine Spur. Kein Übertourismus, eher ein Unterbewohnen.
Und dann spült das Sommerloch eine Debatte ans Rheinufer, die so gar nicht zu dieser Ausgangslage passen will. In einem Beitrag im SWR wird beklagt, dass in Bacharach die Ferienwohnungen verhindern würden, dass sich junge Familien ansiedeln. Das wiederum würde den lokalen Einzelhandel in die Knie zwingen, weil die Touristen angeblich nicht bei lokalen Händlern kaufen würden. In einer strukturschwachen Region, in der der Tourismus eine der wenigen konstanten Einnahmequellen ist, ist es schon ein gewagter Stunt, den Tourismus madig zu reden. Ein Blick in die Straßen von Bacharach oder jedem beliebigen Ort am Mittelrein (ja, immer noch ohne Koblenz) zeigt, wie wenig dieser Vorwurf stimmen kann. Überall Häuser mit Kunstblumen, Staub und blinden Fenstern. Man muss nicht lange suchen, man findet immer eins. Oder zwei, oder drei.
Das Problem ist der Leerstand
In Barcelona geht es um Ferienwohnungen gegen Familien (oder einfach nur normale Einheimische, die ja nicht weniger wert sind). Der Platz ist endlich, der Markt regelt das nicht gut, also muss die Politik eingreifen und steuern. Am Mittelrhein geht es allerdings um Ferienwohnungen gegen Leerstand. Anders als in Barcelona gibt es keinen Mangel an Häusern für die vielen Familien, die in die alten Ortskerne ziehen wollen. In den Immoportalen sind immer wieder neue Häuser im Angebot, man muss nur Lust auf eine Kernsanierung haben, schon hat man ein Kleinod in einer der charaktervollsten Regionen Deutschlands. Aber offenbar ist die Liste der Familien, die das möchten, doch nicht so lang. Und das einzugestehen ist offenbar etwas unangenehmer als auf die Ferienwohnungen zu zeigen.
Es gibt im Mittelrheintal einen Mangel an Wagemutigen, die sich einen alten Kasten zur Brust nehmen und Lust haben, ein paar Monate Staub zu atmen. Jede Ferienwohnung, die auf dem internationalen Markt bestehen kann – also ohne dreigeteilte Matratzen oder Badezimmerfliesen in Bahamabeige – stärkt die wachsende Nachfrage nach Übernachtungen im Tal. Zu jeder Wohnung gehören ein oder mehrere Gastgeber, die für die Gäste aus aller Welt die ersten und oft die einzigen Botschafter des Mittelrheins sind und den Eindruck stark prägen, den die Gäste mitnehmen. Die Gäste eignen sich den liebevollen Blick der Gastgeber auf manche Hausmumie in der Umgebung an und übernehmen deren Begeisterung, was daraus wohl werden könnte. Und die meisten Gastgeber können hier im Tal leben und wohnen, weil sie die Einnahmen aus den Ferienwohnungen haben oder als Ergänzung zu einem anderen Einkommen. Also eine klassische win-win-Situation. Es gibt Leute, die hier ihr Auskommen bestreiten und Gäste, die Geld in die Orte bringen und daheim vom Mittelrhein schwärmen. Und am Ende muss ja irgendwer mal fegen.
Ferienwohnungen sind ein Teil der Lösung
Das klingt ehrlich gesagt nur nach einem Problem für jemanden, der keine Lust auf ein Auskommen hat oder einfach generell die Idee von Touristen vor der Tür nicht mag. Oder davon ablenken will, dass man keine Ideen hat, wie man Wohnraum in den Ortskernen wieder attraktiv machen kann. Natürlich kann man zwei Meinungen haben, ob es schon genug Gäste sind oder nicht, aber der Mittelrhein ist auch mit viel Fantasie nicht Barcelona. »Illegale« Ferienwohnungen sind ja im Internet schnell zu finden und deren Betreiber mit etwas Nachdruck dazu zu bewegen, die Abgaben zu zahlen, wie alle anderen auch. Das ist eher ein ordnungsrechtliches Problem.
Mit einem echten Tourismuskonzept für das Tal und einer dazu passenden Kommunikation außerhalb des Tals lässt sich gut steuern, welche Art von Tourismus hier ankommen wird. Vielleicht etwas weniger von den vier-Stunden-Tages-Touristen, dafür mehr die Individualreisenden, die sich das Tal selber erschließen möchten. Die Ferienwohnungen mit ihren Botschaftern für das Tal sind dabei nicht das Problem, sondern Teil der Lösung. Sie bringen Leben in die Ortskerne und schaffen bestenfalls die Grundlagen dafür, dass dauerhaft neue Leute mit in den Kernen wohnen wollen. Nicht im Bergdorf, nicht in Barcelona, einfach mittendrin am Mittelrhein.
Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designstudio „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist er Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!
Bisher erschienen:
Armut ist der beste Denkmalschutz? (über Häuser als Geschichtenerzähler)
Alles im Fluss (über Trennendes und Verbindendes)
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Mostmajestäten vom Mittelrhein (über eine verpassre Gelegenheit)
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