Redaktion

Hausarzt Georg Brunn: „Wir haben einen riesigen bürokratischen Aufwand“

Der Bingerbrücker Georg Brunn ist Hausarzt mit Bodenhaftung statt Halbgott in Weiß. Der promovierte Mediziner (Dissertationsthema „Einfluss gepulster hochfrequenter elektromagnetischer Wellen auf die nächtliche Hormonsekretion“) absolvierte vor seinem Studium an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz eine Ausbildung zum Maschinenschlosser beim Industriekonzern Linde AG und dürfte der einzige Binger Arzt mit Facharbeiterbrief sein. Brunn startete 1999 als Assistenzarzt im Heilig-Geist-Krankenhaus, wurde Facharzt für Allgemeinmedizin und eröffnete 2005 seine eigene Praxis in der Bingerbrücker Straße. Jetzt kämpft er gegen Corona und das Impf-Chaos. Unkalkulierbare Lieferungen, ungehaltene Patienten und unsägliche Bürokratie bringen Brunn und sein Team jeden Tag ans Limit. Im Interview mit Gastbloggerin Marie-Luise Krompholz spricht er über die Arbeit in seiner Corona-Schwerpunktpraxis und den Weg aus der Pandemie.

Dr. Georg Brunn in seiner Praxis in Bingerbrück.
Dr. Georg Brunn ist Hausarzt in Bingerbrück. Foto: Privat

Dr. Brunn, wie geht es in Ihrer Praxis mit den Corona-Impfungen voran?

Wir sind zwei Ärzte in der Praxis und impfen aktuell zwischen 40 und 70 Patienten pro Woche. Ich impfe gerne, denn so kann ich etwas Gutes tun um die Krankheit abzuwehren. Aber wir kämpfen mit unkalkulierbaren Impfstoff-Lieferungen und haben zudem einen riesigen bürokratischen Aufwand. Die Verfügbarkeit der Impfstoffe schwankte stark, mal gab es nur Impfstoff von Biontech, dann von Biontech und Astra-Zeneca, jetzt haben wir etwas Impfstoff von Biontech und viel von Astra-Zeneca. Immer wieder müssen wir kurzfristig umorganisieren. Eine meiner Medizinischen Angestellten ist komplett damit beschäftigt, Patienten für die Impfung anzurufen, Termine zu vereinbaren, Termine wieder zu verschieben und so weiter.

Wenn ich einen immobilen Patienten zuhause impfen muss, bin ich manchmal eine Stunde damit beschäftigt: Hinfahren, aufklären, Fragen beantworten, impfen, noch 15 Minuten beim Patienten bleiben zur Überwachung, um erst dann weiter zum nächsten Patienten zu fahren. Und dabei läuft die Zeit, denn wenn eine Biontech-Ampulle aus der Kühlung genommen wird und in Einzeldosen aufgezogen ist, müssen alle Impfdosen innerhalb von sechs Stunden verimpft werden.

Mit welchen bürokratischen Hürden kämpfen Sie?

Das würde ein sehr langes Interview werden, wenn ich die alle aufzählen würde … Nur ein paar Beispiele: Als wir Hausärzte im April anfangen durften zu impfen, haben wir unsere Patienten aus der Prio-Gruppe 1 angerufen und eingeladen. Etliche der Älteren haben abgesagt, weil sie bereits im Impfzentrum waren, aber das bekommen wir Hausärzte nicht mit. Diejenigen, die sich aktiv um einen Impftermin bei uns bemühen, sind gerade am Anfang telefonisch nicht durchgekommen und einige haben sich massiv beschwert. Das war – und ist – für meine Mitarbeiterinnen am Empfang eine sehr schwierige und nervenaufreibende Situation.

Nächstes Beispiel: Das Impfzubehör müssen wir teilweise selbst organisieren. Wenn man extrafeine Nadeln verwendet, kann man aus vielen Biontech-Ampullen sieben Impfdosen aufziehen. Jetzt werden diese extrafeinen Nadeln knapp, so dass wir vielleicht bald nicht mehr die maximale Menge verimpfen können. Und weil wir mal sechs und mal sieben Injektionen aus der Ampulle gewinnen, heißt das wiederum: kurzfristig Patienten von der Warteliste anrufen, einbestellen, vielleicht wieder heimschicken.

Ein letztes Beispiel: Wir haben die Aufklärungs- und Einverständnisformulare zu den Impfungen – pro Person insgesamt 7 Seiten – nur als PDF-Dateien abrufen können. Damit wir die nicht auch noch einzeln ausdrucken und sortieren müssen, habe ich sie von der örtlichen Druckerei drucken lassen. So kann ich meinen Mitarbeiterinnen und mir wenigstens ein wenig Arbeit ersparen.

Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, wer zuerst geimpft wird und wer noch warten muss?

Wir richten uns nach den vorgegebenen Prioritäten und impfen zuerst diejenigen, die es medizinisch am nötigsten haben. Aus den Prio-Gruppen 1 und 2 sind schon viele geimpft. Mittlerweile impfen wir auch unsere Patienten aus der Prio-Gruppe 3.

Bei Astra-Zeneca haben wir sehr viele Diskussionen, etliche Patienten sind durch die Medienberichte verunsichert und lehnen diesen Impfstoff kategorisch ab. Dabei ist es ein gutes Vakzin und die Angstmache ist aus meiner Sicht überzogen. Wer auf einem mRNA-Impfstoff wie von Biontech besteht, muss warten, bis wir welchen bekommen und bis er oder sie an der Reihe ist. Es ist eine schier endlose Telefoniererei und ich begrüße es, dass die Priorisierung Anfang Juni aufgehoben werden soll.

Sie sind auch Corona-Schwerpunktpraxis. Wie viele Erkrankte haben Sie bisher behandelt und wissen Sie, wie es diesen Menschen heute geht?

Eine genaue Zahl kann ich Ihnen nicht nennen. Die Patienten kamen in Wellen: im vorigen Frühjahr, dann im Herbst / Winter und mit der dritten Welle in diesem Frühjahr. Momentan bekommen wir ganz gezielt Menschen zugewiesen, die in den Testzentren positiv getestet wurden, um einen PCR-Test zu machen. Meist sind diese Menschen ohne Symptome.

In der ersten und zweiten Welle gab es vor allem in den Altenheimen Corona-Ausbrüche, die Patienten kamen aber direkt ins Krankenhaus und nicht zu mir in die Praxis. Etwa ein Drittel der Corona-Patienten in Binger Seniorenheimen sind in dieser Zeit in Folge der Infektion gestorben.

Unter den ambulanten Patienten, die ich betreut habe, waren einige die ich ins Krankenhaus einweisen musste. Soweit ich weiß, ist von diesen niemand verstorben. Einige kämpfen aber noch mit den Folgen der Erkrankung. Wenn Patienten über längere Zeit künstlich beatmet werden, müssen sie anschließend wieder mühsam alle Aktivitäten des täglichen Lebens erlernen, wie Aufstehen, Gehen, die Orientierung wieder finden. Bei älteren Menschen kann es durchaus ein halbes Jahr und länger dauern, bis sie wieder mitten im Leben stehen, mit der Gefahr dauerhafter Einschränkungen in Mobilität und Leistungsfähigkeit.

Neulich haben wir uns sehr gefreut, als ein betagter Patient mit seiner Gehhilfe in die Praxis kam. Er hatte Anfang des Jahres seine erste Impfung im Impfzentrum erhalten, war einige Tage später schwer an Corona erkrankt und musste in der Uniklinik beatmet werden. Danach war er längere Zeit in der Reha und kommt jetzt langsam wieder auf die Beine. Es kann gut sein, dass ihn die Impfung vor einem schlimmeren Ausgang bewahrt hat!

Einige Menschen sagen, eine Corona-Erkrankung sei nicht schlimmer als eine Grippe. Wie sind da Ihre Erfahrungen?

Das kann man überhaupt nicht miteinander vergleichen! Die einzigen Gemeinsamkeiten sind, dass beide von Viren verursacht werden und dass man auch an einer Grippe sterben kann.

Corona ist eine Multiorgan-Erkrankung und kann in allen Altersgruppen schwere Schäden anrichten. Wenn das Immunsystem die eigene Lunge angreift und zerstört, geht es den Patienten schnell dramatisch schlechter. Dies bewirkt nämlich diese perfide Infektion in unserem Körper. Selbst nach überstandener Infektion sind bis zu 10 Prozent der Genesenen monatelang extrem erschöpft und nicht mehr leistungsfähig, darunter auch junge und vorher topfitte Menschen.

Zudem kann Corona Thrombosen auslösen, auch Hirnvenenthrombosen. Das Risiko dafür ist viel höher als bei der Impfung. Ich erkläre es meinen Patienten oft mit diesem Vergleich: Das Schadensrisiko ist unter Astra-Zeneca so gering, wie wenn sie eine wenig befahrene Straße überqueren, bei einer Corona-Infektion so als ob sie über eine vierspurige Autobahn gehen.

Was ist aus Ihrer Sicht in den nächsten Wochen wichtig, damit die Corona-Inzidenz weiter sinkt? Und was kann jeder einzelne Mittelrheingold-Leser dazu beitragen?

Am wichtigsten ist, dass die Impfkampagne weiter vorankommt. Je mehr Menschen sich impfen lassen und je schneller das passiert, desto besser. Denn Corona ist hochansteckend und für das wirksame Eindämmen der Erkrankung müssen mindestens drei Viertel der Bevölkerung geimpft sein, vermutlich noch mehr.

Was Tests angeht: Sie sind wichtig vor Aktivitäten und Kontakten mit anderen Menschen, solange die Impfung nicht vollständig abgeschlossen ist. Besser als ein Selbsttest ist ein Test im Testzentrum, weil dort die richtige Durchführung sichergestellt ist. Außerdem sollte jeder Leser natürlich auf die Hygieneregeln achten, ausreichend Abstand halten und bei Kontakten eine FFP2-Maske tragen.

Von der Politik wünsche ich mir andere Ideen als flächendeckende Lockdowns, damit wieder mehr Leben möglich ist. Die Fixierung einzig auf Inzidenzwerte ist nicht sinnvoll, da der Inzidenzwert von der Testhäufigkeit abhängt und jetzt natürlich nicht mit den Inzidenzwerten zu Beginn der Pandemie verglichen werden kann. Das ist statistisch unzulässig. Ich bin überzeugt, dass man mit differenzierten Konzepten Schulen, Geschäfte und Restaurants öffnen kann, ohne dass die Fallzahlen stark steigen. Dazu müssten mehr Aktivitäten im Freien erlaubt werden, da die Aerosolforscher deutlich nachgewiesen haben, dass im Freien so gut wie keine Infektionen stattfinden.

Worauf freuen Sie sich am meisten, wenn Corona einigermaßen im Griff ist?

Privat freue ich mich darauf, meine Freunde wieder ohne Einschränkungen zu treffen, an Sportveranstaltungen teilzunehmen und ins Fußballstadion zu gehen. In der Arztpraxis ist Corona seit Monaten das alles beherrschende Thema und es wird Zeit, dass andere behandlungsbedürftige Krankheiten wieder mehr ins Blickfeld rücken können.

Marie-Luise-Krompholz hat während der Pandemie noch weitere Macherinnen und Macher am Mittelrhein interviewt. Bisher erschienen:

Foto des Tages

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Burg Sooneck (@burgsooneck)

Freitags kommt Mittelrheingold per Mail

Der wöchentliche Newsletter bringt die wichtigsten Mittelrhein-Themen auf einen Blick. Hier geht’s zum kostenlosen Abo