Es gibt sicher gute Gründe für die schnurgerade ICE-Strecke von Köln nach Frankfurt, aber Christian Büning fallen sie gerade nicht ein. Warum der kurvige Weg durch das Mittelrheintal einfach schöner ist. Eine Liebeserklärung.
Eine Stunde ist nicht viel Zeit. Es sei denn, man bucht ein Zugticket und will von Köln nach Frankfurt. Es gibt zwei mögliche Verbindungen. Eine schnelle und eine langsame. Die schnellere der beiden Verbindungen hält maximal an zwei Orten und ist in einer guten Stunde am Ziel.
Die langsame Verbindung braucht mehr als doppelt so lang und führt durchs Mittelrheintal. Während der ICE auf der Schnellstrecke gerade wie ein Laserstrahl durch die Landschaft zischt, ist der Zug durchs Mittelrheintal unterwegs so wie kleine Kinder Rad fahren: hin und her, hält manchmal überraschend an und hat keine große Eile. Würde der Zug bei der kurvenreichen Strecke Vollgas zu geben, müssten manche Fahrgäste ohnehin hektisch ihren umkippenden Kaffeebecher retten. Also fährt die Bahn gemütlich durchs Mittelrheintal. Das braucht länger, aber es hat seinen Reiz.
Der Effekt ist immer der gleiche. Ab Koblenz hören die Leute auf zu reden, legen die Tablets, Telefone und – ja – Zeitungen weg und gucken. Sie gucken. Aus dem Fenster auf den Rhein. Auf Burgen, die auf Felsen thronen wie die Kirsche auf dem Sahnetupfer, sie gucken auf Häuschen, die sich ganz direkt bis an die Gleise wagen, auf Lastkähne, mit Schotter beladen, die tapfer gegen die Strömung tuckern.
Sie gucken und machen Fotos. Fotos, weil man die Landschaft nicht glauben kann. Die Hänge werden langsam höher und schroffer, der Kontrast zwischen den kleinen Orten unten am Rhein und den hohen Hangkanten nimmt mit jeder Kurve zu. Der Höhepunkt ist die Loreley, die fast senkrecht im Rhein steht wie in massiver, gigantischer Schiffsrumpf, der nach Westen fährt. Oben ist sogar ein Geländer. Danach wird die Landschaft langsam wieder milder mit ihren Hängen, das Tal öffnet sich wieder zu lieblicheren Weinbergen und Wäldern. Hinter Bingen blinzeln alle in die weite Gegend und fragen sich, was sie da gerade eigentlich gesehen haben.
Die Mittelrheinstrecke ist kurvig, nahezu bummelig und eine hervorragende Verschwendung von Zeit. Die ICE-Schnellstrecke hingegen ist schnurgerade, effizient und zeitsparend als würde endlich die Zukunft anfangen. Dafür verpasst man einiges in der Gegenwart. Wenn man durchs Mittelrheintal fährt, kann man in den engen Kurven manchmal das Ende des Zugs sehen – oder den Anfang. Je nachdem wo man sitzt. Was für ein Spaß, man kann sich selbst beim Fahren von außen beobachten!
Die Tunneleingänge sind nicht einfach ein gegossenes Betonrohr, in dem der ICE verschwindet wie eine Flaschenpost, sondern sie haben prunkvoll gemauerte Eingänge mit Kapitellen, Schutzfiguren und geklinkerten Umrahmungen, die den Handwerkermeister erkennen lassen. Da fährt man nicht einfach so rein, da verneigt man sich kurz und widmet sich dann voll und ganz dem Tunnel. So fühlt sich also eine Modelleisenbahn in echt an. Im Tunnel ist natürlich kein Netz – wir sind in Deutschland – sondern nur Rumpeln, Rauschen und der Versuch, beim Starren in die spiegelnden Scheiben nicht aus Versehen andere Leute anzugaffen.
Der Zug fährt so nah an Häusern vorbei, dass man Sorge hat, die Fensterläden würden abgefahren. Stattdessen wedeln die Geranien nur ein bisschen mit. Man kann direkt aus dem Fenster den Leuten dabei zusehen, wie sie gerade eine Gabel Paella essen oder man fährt fast direkt durch einen Friedhof durch. Die einzelnen Bilder tauchen zusammenhanglos im Zugfenster auf als hätte jemand einen Trailer über das Mittelrheintal zusammen geschnitten. Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie viel Arbeit es gewesen sein muss, die Bahndämme aufzuschichten und die Tunnel in den Fels zu treiben. Wenn Kultur mit Pflege übersetzt wird, dann ist diese Strecke eindeutig die kultiviertere von den beiden, denn es braucht mehr Pflege, um so eine Zugfahrt überhaupt möglich zu machen.
Die Stunde, die ich bei der Mittelrheinroute länger brauche, ist gut investiert. Während ich im Kölner Becken bei den Obst- und Gemüsefeldern an Wirtschaft, Arbeit und Bruttosozialprodukt denke, ist die Strecke am Mittelrhein immer der Anfang, um runter zu kommen, zu gucken und die Gedanken treiben zu lassen. Die alten Steine lösen Gedanken aus, wie man wohl früher mit dem Neuen umgegangen ist am Rhein. Wie wurden die Dampfmaschinen gefeiert, als die ersten dieser fauchenden Ungetüme aus England hier ankamen? Wie wurden die reichen Söhne britischer Adeliger beäugt, die mit ihrem Kammerdiener an den Gasthöfen anklopften und in perfektem Deutsch mit leicht britischem Akzent um Unterkunft baten, please? Mit welchen Augen muss Napoleon den Rhein gesehen haben, also jetzt nicht von der Körpergröße her, sondern strategisch? Von der Körpergröße hat er vielleicht erstmal das Gestrüpp am Ufer entfernen lasse, um überhaupt was zu sehen. Und hat dann überlegt, wie er rüber kommt. Welche Lieder haben die Holzfäller aus dem Schwarzwald gesungen, die auf ihren riesigen Baumstammflößen beim Feuer saßen und Bohnen kochten? Wie ist es, als Kind unbekümmert am Rhein zu spielen, wenn die Eltern wissen, wie viele Menschen der Rhein schon mitgenommen hat? Welche Dramen hat der Rhein schon verschluckt und nicht wieder hergegeben?
Die Effizienz der Schnellstrecke bringt mir eine Stunde Vorsprung. Das ist gut, aber halt auch nur eine Stunde. Wie schnell ist diese Stunde wieder vertrödelt mit Belanglosigkeiten wie etwa dem Lesen dieser Kolumne? Die langsame Fahrt durchs Mittelrheintal hingegen bringt mir viele Jahrhunderte auf einmal nahe. Rheinland, Preußen, Bayern, Deutschland, Europa, alles hier, alles schon hier gewesen. Liebe, Leidenschaft und Hochwasser, alles drin. Archaeopteryx, Urpferde und Römerhelme? Hat der Schiefer alles parat. Das prallvolle Programm liegt direkt vor dem Zugfenster und es kostet mich nur eine Stunde Zeit. Was für eine Zeit.
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13 Gedanken zu „Mittelrhein statt nur dabei: Was ist schon Zeit“
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