Alles schon mal gesehen? Das Mittelrheintal gehört zu den meistfotografierten Reisezielen Europas. Trotzdem gibt es fast hinter jeder Kurve ein ruhiges Plätzchen und Ort, die selbst Einheimische noch noch nicht kennen. Mittelrheingold-Kolumnist Christian Büning verrät einen davon.
„Lonely planet“ heißt ein beliebter Reiseführer, der seine Leserinnen und Leser zu bisher unentdeckten Orten schickt, damit sie dort das kurze Zeitfenster genießen, bevor der Ort von Touristen überrannt und totografiert ist. Totografiert ist kein Tippfehler sondern meint totfotografiert, aber in der Buchstabensparversion für Kolumnisten, die nach Zeile bezahlt werden und mit allen Kräften versuchen, noch eine mehr rauszuschinden – zur Not mit Gedankenstrichen.
In der Rue Cremieux in Paris kennt man totografiert sehr gut. Die Anwohner wehren sich mittlerweile gegen die Ströme von Instagrammern, weil sie nicht mehr aus dem Haus kommen vor lauter Leuten, die auf dem Boden liegen und ihre Freundin fotografieren. Die Fotografierte geht sich gerade gedankenverloren durchs Haar und reproduziert leise lächelnd den Zauber von Paris genau wie alle hier Fotografierten vor und hinter ihr. Man könnte viel besser einfach die leere Straße fotografieren und das dann als Hintergrundbild für Photoshop zur Verfügung stellen. Dann kann sich jeder mit seiner gedankenverlorenen Pose reinmontieren. Die Leute in Paris haben ihre Ruh und die Poser haben ihr Foto.
Selber schuld, sie könnten ja auch einfach die Straße weniger schön machen. Das Kopfsteinpflaster rausreißen und durch abgerockten Asphalt ersetzen, der in mehreren Schichten geflickt und immer wieder zu Schanden gefahren wurde. Sie könnten die schön bepflanzten Kübel durch schreiend bunte Mülltonnen ersetzen und die idyllisch bunten Häuschen einfach nicht mehr anstreichen sondern lässig verwittern lassen zum shaby-glam. Manche Orte wenden diesen Trick bereits sehr erfolgreich an, auch schon seit deutlich vor Instagram. Nicht mal das hält einige vom Fotografieren ab, aber dann mit deutlich morbideren Absichten oder als Kulisse für Musikvideos mit gesellschaftskritischen Hauptaussagen.
Die Dosis bestimmt hier also eindeutig das Gift. Zu wenige Touristen lohnen sich nicht, aber zu viele will auch keiner haben. Es ist wie bei einer Party. Alleine im Gartenhäuschen sein will man nicht, das ist deprimierend. Aber im Pulk vor dem Buffet ist es auch unbequem, weil man dauernd einen Teller in den Rücken gedrückt bekommt. Wo ist der lonely planet also ein lovely planet? Wo ist der einsame Ort kein verlassener Ort sondern einsame Klasse? Es soll Wirtschaften geben, die ihren Beitrag dazu leisten, die Touristenströme überschaubar zu halten, indem sie ihren Gästen einfach ab 10 Uhr abends keine Getränke mehr bringen oder kommentarlos das Licht hinter der Theke löschen, das Handtuch in die Ecke werfen und heim fahren. Das wirkt sehr gut, die Leute kommen tatsächlich nicht so oft wieder.
Insgesamt gesehen ist diese Technik aber weder charmant schrullig noch ein guter Anfang für Mundpropaganda, geschweige denn eine liebenswerte regionale Eigenart wie sie die Berliner Taxifahrer pflegen. Wer dort zuvorkommend behandelt wird, fühlt sich ja direkt ausgegrenzt. Nein, diese Art von negativer Freundlichkeit ist als Markenzeichen schon besetzt. Am Mittelrhein können wir auf andere Pfunde setzen. Der Mittelrhein hat jede Menge lonely places zu bieten, die tatsächlich lonely sind.
Einmal um die Kurve gegangen, zack ist man alleine
Verlässt man die Ortschaften, ist man schnell im Weinberg oder im Wald und genau so schnell ist man tatsächlich alleine und kann endlich hemmungslos Boney M singen. Das ist ein riesiger Vorteil im Vergleich zu Ballungsregionen, wo man sehr lange hinaus fahren muss, um den Luxus zu genießen, den „River of Babylon“ alleine vor sich hin singen zu können. Das Gute ist, dass man sich am Mittelrhein zwar alleine fühlt und auch niemanden sieht, aber oft nicht wirklich alleine ist.
Man kann davon ausgehen, dass irgendwo in der Nähe jemand gerade Nüsse sucht, Reben schneidet oder zufällig mit dem Hund geht und dich finden wird, wenn der Blinddarm durchbricht. Eigentlich die perfekte Kombination. Einsamkeit mit Sicherungsleuten im Hintergrund, falls was passiert. Also Boney M vielleicht erstmal nur einstimmig singen.
Am Mittelrhein springen einen die lonely places geradezu an. Einmal um die Kurve gegangen, zack ist man alleine. Überall gibt es nicht nur gut ausgebaute Wanderwege, sondern dazu noch einige alte Wege, die früher mal genutzt wurden und sich heute etwas verstecken. Hier und da sieht man den Eingang zu alten Schieferminen oder Abkürzungen vom Rhein zu den Hangkanten, die sich in den Haselsträuchern verlieren.
Es gab Zeiten, da wurden die Besorgungen und die Gerüchte zu Fuß hier hoch getragen, bis endlich jemand so freundlich war, den Kofferraum zu erfinden. Die alten Wege sind aber trotz Kofferraum noch da und sie erzählen ihre eigenen Geschichten. Von der Verbindung zwischen zwei Orten. Oder auch von der fehlenden Verbindung zwischen zwei Orten. Oder von dem kleinen Umweg hinter eine Baumgruppe, wo man sich prima zwischen zwei Orten verabreden konnte bevor man zuhause die Knutschflecken mit einem Schal verstecken musste. Es sind lonely places, aber einsam waren da nicht alle, eher lovely.
Last Exit Urbar
Manche der alten Wege sind auch die neuen Wege. Diese Wege sind die heimlichen Stars am Mittelrhein. Wenn ich heute eine Traumschleife wandere, stelle ich mir vor, dass genau hier schon lustlose Römer entlang schlurften, die weniger Lust auf Imperium als auf Cervisia hatten und sicher an alles andere als an Traumschleifen dachten. Lonely places mit dem Kitzel der Geschichte.
Gegenüber der Loreley gibt es so einen kleinen verschlungenen Weg durch den Wald, der eine prima Abkürzung nach Urbar ist – wenn man nicht gerade mit dem Kinderwagen unterwegs ist. Wer hier hoch kommt ohne zu schnaufen, der ist wahrlich fit. Die Urbarer sind clever, sie haben sich die Gemarkung gesichert, also läuft man vom Rheinufer bis nach oben über Urbarer Grund. Urbar ist daher einer der wenigen Höhenorte mit Rheinanschluss. Dieser Weg ist ein echter lonely place.
Der Anstieg hält viele davon ab, ihn zu gehen, also ist man schnell für sich. Bald ist man über den Häusern und über den Gleisen. Der Wald schließt sich locker, lässt aber gucken. Auf diesem Weg bist du nur wenig mehr als 150 Meter vor der Loreley und ganz alleine für dich und hast einen exklusiven Panoramablick auf Deutschlands berühmtesten Felsen. Oben, auf der Loreley, siehst du, wie sich Leute am Geländer tummeln. Sie warten höflich, bis sie an der Reihe sind für ihren kurzen lonely-place-moment am Gitter. Sie treten ans Gitter, schauen runter, schauen links und rechts, zeigen auf ein Schiff und machen dann Platz für die nächsten. Dann machen sie sich wieder auf die Suche nach dem nächsten lonely place. Manchmal sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht.
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Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist regelmäßiger Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!
Bisher erschienen:
Gänse im Anmarsch (über die nervigsten aller Mittelrhein-Touristen)
Grenzenlos gut (über eine Mittelrhein-Grenze, die jederzeit ignoriert werden muss)
Ein Dach ohne Gaube ist ein Irrtum (über das Paradies der Ecken, Winkel und Dachgauben)
Was ist schon Zeit? (über Zugfahren am Mittelrhein)
Eine Ziege, ein Kohl und ein Wolf (über Brücken und Fähren)
Gude, Moin und Guten Tag (über die Kunst des richtigen Grüßens)
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10 Gedanken zu „Mittelrhein statt nur dabei: Lonely Places oder die heimlichen Stars am Mittelrhein“
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