Mittelrheiner schimpfen gern (und mit Recht) über zu viele Grenzen im Tal. Aber eigentlich nehmen sie sie gar nicht ernst. Dafür ist in den vergangenen Jahrhunderten zu viel geändert und gebietsreformiert worden. Eigentlich gibt es nur 2 ewige Grenzlinien im Tal. Mittelrheingold-Kolumnist Christian Büning erklärt, warum eine davon trotzdem ignoriert werden muss. Grundsätzlich und ohne Ausnahme.
Alles, was lebt, grenzt sich ab. Ein winziges, gut gelauntes Bakterium grenzt sich mit einer Zellwand von seiner schlecht gelaunten Umgebung ab. Bäume machen das schon etwas exklusiver und grenzen sich mit einer dicken Rinde ab. Katzen schließlich grenzen sich ab, in dem sie sich mit jeder anderen Katze prügeln, die es wagt, in ihr Revier zu kommen. Oder sie paaren sich und prügeln sich dann. Das ist bei Katzen ja nicht so genau auseinander zu halten. Vögel grenzen sich mit wunderschönem Gesang ab, das hört sich meistens besser an als kämpfende Katzen.
Grenzen sind also natürlich, aber wie alles Natürliche nichts für die Ewigkeit. Ich habe eine Karte von Europa gesehen, bei der alle jemals existierenden menschengemachten Grenzen der letzten 2000 Jahre übereinander gelegt sind. Jede Grenze ist eine graue, zackelige Linie. Diese grauen Linien sind sehr ungleichmäßig verteilt.
Es gibt Landstriche in Schottland oder Schweden, wo noch nie eine Grenze war, keine Linie nirgends, alles weiß. Um das Land hat offenbar noch nie ein Kampf stattgefunden, was man als Landstrich ja auch erstmal verkraften muss. Vielleicht ist die Betrachtungsweise tröstender, dass der Landstrich einfach den Schotten gehört und das schon so lange Zeit, dass man »schon immer« sagen kann. Das fühlt sich dann an nicht wie übrig geblieben, sondern eher wie Treue.
Und dann gibt es auf dieser Karte mit den ganzen Grenzen Gegenden wie den Mittelrhein. Die Zugehörigkeiten haben sich hier so oft geändert, dass vor lauter Linien gar nicht mehr erkennbar ist, wo der Mittelrhein eigentlich verläuft. Ein wildes Gemenge. Immer wieder wurde die Region neu aufgeteilt, zerteilt, neu besetzt und neu erobert. Einmal blieb sogar bei diesen Aufteilungen ein Stück Land über, ein Flaschenhals. Ein Zirkel kann halt nun mal keine Ecken. Dieses Kuriosum wird bis heute frenetisch gefeiert, ein Grenzfall der Humorgeschichte. Landstriche, die so oft neue Grenzen bekommen haben, sind offensichtlich anders gefragt als Gegenden, in denen noch nie über Grenzen verhandelt werden musste. Es wird schwer, das als Treue zu verkaufen, aber es ist auf jeden Fall alles andere als übrig gebliebenes Land.
Was macht es mit den Leuten am Mittelrhein, wenn die Grenzen so oft wechseln? Es haben ja nicht nur Flaggen und Herren gewechselt. Das wäre einfach. Neuen Namen merken, alte Flagge reinholen, Löwen runterkratzen, Hahn aufnähen, huldigen und fertig. Es änderten sich ja auch Kruzifixe – mal mit, mal ohne Heiland. Wer selber noch zur ersten Kommunion ging, schickte seine Kinder zur Konfirmation. Die Bräuche und Geschichten wurden bei der Gelegenheit gleich mit getauscht, manchmal nur teilweise, manchmal auch gar nicht. Auch eine Chance, um Geschichten etwas auszuschmücken und fantastischer zu machen.
Landstriche wie der in Schottland, die nur einmal eine Grenze bekommen haben und danach nie wieder, teilen sich in eine Zeit vor der Grenze und eine Zeit danach. Dazu ist der Zeitpunkt der Grenzziehung schon lange her, man hat sich längst an die Gegebenheiten gewöhnt und kann sich nicht mehr vorstellen, wie es jemals anders war. Wenn jedoch am Mittelrhein die Grenzen so oft wechseln wie Helene Fischer ihre Kostüme bei Wetten dass, kann sich das ja keiner mehr merken.
Alle paar Jahre wechselten die Zuständigkeiten, weil ein Bischof was verkauft hat oder ein Balduin etwas geschenkt bekommen hat. Heute Preußen, morgen Bayern, übermorgen Pfalz? Wie grüße ich denn heute korrekt? Und wer kann so viele verschiedene Flaggen hinter der Bettwäsche lagern? Wenn eine Grenze so oft wechselt wie am Mittelrhein, dann ist das etwas unübersichtlich, also lässt man die Grenze einfach irgendwann einfach eine Grenze sein und macht sein eigenes Ding.
Den neuen Grenzen bringt man dann natürlich gerade so viel Respekt entgegen, dass es nicht unhöflich ist. Grenzen kommen und gehen, Obrigkeiten ebenso. Neuen Obrigkeiten begegnet man am Mittelrhein deswegen gerne mit heimlicher oder auch weniger heimlicher Belustigung. Erst wird salutiert, dann parodiert und gerne über die da oben gelacht. Ein guter Reflex. Vermutlich ist das neben der ausgeprägten Feierlust eine Wurzel des vollkommen grenzenlosen Fastnachtstreibens hier. Unbeeindruckt wie ein Almbauer, der tropfend nass auf der Alm ein Herbstgewitter ignoriert, sitzt man hier die vielen Grenzziehungen einfach aus, schenkt nochmal nach und wirft die Prinzengarde in die Luft.
Also kann man festhalten, dass man Grenzen hier genau so wichtig nimmt wie Geschwindigkeitsbegrenzungen. Es ist maximal ein Angebot. Erst Bayern, dann Rheinland, dann Rheinland-Pfalz? Na gut. Erst Kreisstadt, dann nur noch Stadt, dann Verbandsgemeinde? Warum nicht? Erst Kelten, dann Römer, dann Hohenzollern? Ja, und? Nichts ist von Dauer, keine Grenze hält für immer. Dann kommen einfach neue graue Linien oben drauf. That’s life. Aber halt: keine Grenze hält für immer?
Es gibt zwei Grenzlinien, die den Mittelrhein über all die Zeit hinweg definieren und ehrfürchtig von niemandem in Frage gestellt werden. Die eine ist natürlich der Rhein, der treu wie Gold (oder besser Mittelrheingold) in seinem Bett vor sich hin fließt und auch nur sehr, sehr selten die Fließrichtung ändert. Die andere wichtige Grenze am Mittelrhein ist der Eichstrich am Weinglas, der mehr Vertrauen genießt als Polizei, Ärzteschaft und Feuerwehr zusammen.
Beim Rhein akzeptiert man, dass er gelegentlich über die Linie geht, beim Eichstrich wird es regelrecht erwartet. Wenn der Rhein bei seiner Linie bleibt, ist alles in Ordnung. Wenn der Wein bei der Linie bleibt, ist die Stimmung im Eimer. Diese beiden Linien halten den Mittelrhein zusammen, komme was da wolle. Diese Linien geben in dem ganzen Wirrwarr der alten und neuen Grenzen auf der Europakarte Orientierung und Halt, egal wie viele neue Linien sich auch noch darüber legen werden.
Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist regelmäßiger Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!
Bisher erschienen:
Ein Dach ohne Gaube ist ein Irrtum (über das Paradies der Ecken, Winkel und Dachgauben)
Was ist schon Zeit? (über Zugfahren am Mittelrhein)
Eine Ziege, ein Kohl und ein Wolf (über Brücken und Fähren)
Gude, Moin und Guten Tag (über die Kunst des richtigen Grüßens)
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Ja 🙂 und wehe da kommt einer mit ‘ner Schütteleich daher …