Es gibt Leute, die ihren Bürgermeister auf den Mond schießen könnten. Mittelrheingold-Kolumnist Christian Büning sind solche Gedanken ganz sicher fremd, aber dem einen oder anderen Mittelrhein-Politiker würde er einen Aufenthalt auf der Raumstation ISS empfehlen. Denn wer von dort auf die Erde blickt, sieht das Welterbetal so, wie es wirklich ist: als Einheit und als gemeinsamen Lebensraum, nicht als Nebeneinander von Verwaltungsorganisationen. Eine Kolumne über Kirchturm-Denker und das, was sie von Astronauten lernen könnten.
Die Raumstation ISS fliegt in ungefähr 360 km Höhe, also dreimal so hoch wie der Mittelrhein lang ist. Dort ist es zwar etwas frischer in den Außentemperaturen, aber es ist eine gute Entfernung, um sich einen Überblick zu verschaffen. Im April konnte die Besatzung der ISS ein Foto zur Erde schicken, das den Mittelrhein zeigt. Oder vielmehr eine große sehr grüne Region, in deren Mitte ein kleines weißes Gespinst steckte. Die große grüne Region ist ein Teil von Rheinland-Pfalz und Hessen. Anders als bei Online-Karten sieht man vom Weltall keine Beschriftungen oder Straßen, auch keine Pins mit Bewertungen. Es ist einfach nur eine große Fläche mit vielen Grüntönen.
Obwohl man weniger sehen kann, sieht man mehr
Die Aufnahme ist vom frühen Morgen des 27. April 2022. Es ist ein nebliger Morgen, beim Aufstehen sah man die Hand vor Augen nicht. Wer im Mittelrheintal mit so einem Nebel aufsteht, ist für eine Weile nicht mehr in einem Tal, weil die Hangkanten von gegenüber verschwunden sind. Für einen kurzen Moment gibt es nur dich und den Rhein. Die Enge des Mittelrheintals verschwindet für einen gedämpften Moment. Obwohl man weniger sehen kann, sieht man mehr.
Ich mache mir beim Aufstehen an dem Tag keine Gedanken darüber, ob es gerade überall in Rheinland-Pfalz so neblig ist wie direkt vor mir, als ich aus dem Fenster sehe. Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keine Gedanken zu der Uhrzeit, sondern eher die Vorstufen von Gedanken, die sich überwiegend um Kaffee drehen und gleichmäßiges Atmen. Mir reicht in dem Moment die Info dass es neblig draußen ist und vermutlich keine Vögel herumfliegen. Der Nebel ist in meinem Kopf und auch draußen und ich hoffe fromm, dass er schon irgendwann aufhören und der Tag anfangen wird.
Hätte ich in dem Moment die Perspektive von der ISS aus gehabt, dann hätte ich gesehen, dass der Nebel sehr bald aufhörte, dass es genau genommen nirgendwo neblig war, außer im Mittelrheintal und einem kleinen Flecken an der Mosel. Die Zutaten für Nebel gabs nur in Flusstälern. Aus dem Nebel ragten vielleicht nur die Kirchtürme hinaus, überall sonst im Land imponierte der April mit einem schönen, klaren Frühlingsmorgen. Die Leute standen lächelnd mit der Morgensonne auf, reckten und dehnten sich, frühstückten frische Früchte, herzten die Kinder, machten einen lustigen Spruch und begannen diesen neuen Tag beschwingt mit etwas Sport. Nur im Mittelrheintal zog man die Läden hoch und sah – nichts.
Ein schönes Bild. Überall tolles Wetter, nur am Mittelrhein reicht die Sicht nicht mal bis zum Kirchturm, alles andere verschwindet im dunstigen Desinteresse. Dabei wollen doch am Mittelrhein alle das Kirchturmdenken überwinden. So oft hab ich das schon gelesen und gehört, dass es mich wundert, dass überhaupt noch Kirchtürme da sind. Ist dieser Nebel ein Sinnbild für den Mittelrhein? Ein Sinnbild, das mich vor dem ersten Kaffee auf melancholische Gedanken bringt? Eine schwebende Feuchtigkeit, die meinen Optimismus niederschlägt? Ist Nebel eigentlich Niederschlag oder nicht?
Ein Tal, eine Buga, eine Idee
Als die Buga vor ein paar Jahren auf einem Rheinschiff vorgestellt wurde, saß ich im Publikum. Die Buga war damals nur eine Idee, auf die man sich als Region bewerben konnte. Wenn man sich einig war, ja wenn das Kirchturmdenken überwunden werden könnte. Damals war klare Sicht, die Sonne schien von backbord rein und erwärmte die Tischdecken. Um die Stapel von Wassergläsern tanzten kleine Flusen im Licht. Die Buga war damals nur eine Reihe von Powerpointfolien an der Wand und die Hoffnung, dass in den Köpfen und Herzen ein Funke zündet, der mehr daraus macht als nur etwas Licht auf der Wand. Die Hoffnung war groß. Ein Tal, eine Buga, eine Saison, eine Idee, eine Begeisterung, eine Vision sollte es werden. Die letzte Folie wurde gespielt, erwartungsvolle Gesichter ins Publikum, atmen wie nach einer Akrobatiknummer, warten bis die Präsentationsträgheit verfliegt und alle ihre Sprache wieder gefunden haben.
Der Kontrast könnte nicht größer sein zwischen der freudigen Erwartung auf der Bühne und der ersten Rückmeldung eines Bürgermeisters. Er fegte die Arbeit von Monaten missgelaunt vom Tisch und drohte damit, nicht mitzumachen. Kein Wort des Dankes, keine Wertschätzung, kein Respekt. Die Stimmung fror ein, die Sonne drehte sich aus den Fenstern und erwärmte jetzt die Rückseite vom Schiff. Jemand hustete, ein Glas fiel um. Klar, diese Drohgebärde war nur ein Manöver, um mehr Geld vom Kuchen zu bekommen. Aber sie zeigte auch sehr deutlich, dass die Kirchtürme noch da sind, um die hier gedacht wurde. Hier wollte einer, dass der Nebel in Stücke geschnitten wird. Und das größte sollte bei ihm landen.
Es ist eine Einheit, egal was die Behörden dazu sagen
Vielleicht haben auch schon damals Augen von der ISS auf dem Mittelrheintal geruht. Sie haben dieses Verteilungsgerangel nicht gesehen, sondern nur einen einzigen Fluss. So wie sie jetzt einen Fluss im Nebel gesehen und fotografiert haben. Der Nebel erinnert sehr deutlich daran, wie der Mittelrhein von außen gesehen wird. Es ist ein Mittelrhein. Dem Nebel ist es egal, wo er rumnebelt, dass er da über Landesgrenzen, Kreisgrenzen, Verkehrsverbundgrenzen und Tarifzonen hinweg einfach nur eine bodennahe Wolke ist.
Die Buga-Gäste werden den Mittelrhein einnehmen wie dieser Nebel. Sie werden nachher sagen, dass sie am Mittelrhein waren. Es ist eine Region. Es ist eine Einheit, egal was die Behörden dazu sagen. Und tatsächlich bricht der Nebel langsam auf und der schroffe Hang von gegenüber erscheint wieder. Die andere Seite ist wieder da, ich bin wieder im Tal. Der Rhein dampft noch etwas wie ein Sportler am Morgen. Und durch die Lücke im Nebel kann ich oben einen kleinen weißen Punkt im Himmel erkennen. Entweder ist das ein verdammt heller Stern oder ich hab gerade dem Fotografen auf der ISS direkt in die Linse geschaut.
Christian Büning ist Mittelrheiner mit innerdeutschem Migrationshintergrund: Der Kreative aus Münster lebt und arbeitet seit 2017 in Oberwesel. Dort führt er sein Designbüro „Büro Büning“, engagiert sich im Stadtrat und hilft bei vielen Initiativen im Welterbetal. Nebenbei saniert er alte Häuser und vermietet gemeinsam mit seinem (Ur-)Oberweseler Lebenspartner Marcel D’Avis gut eingerichtete Ferienwohnungen. Schreiben kann er auch noch. Seit 2021 ist er Kolumnist bei Mittelrheingold. Danke, Christian!
Bisher erschienen:
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