Frank Zimmer

Was Johannes Gerster über die Gebietsreform am Mittelrhein denkt

Die großen Gebietsreformen der 60er und 70er Jahren sind dem Oberen Mittelrheintal teuer zu stehen gekommen. Gleich 3 Städte verloren ihre Kreisverwaltungen: Bingen, St. Goar und St. Goarshausen. Bacharach musste die Verbandsgemeindeverwaltung an Bingerbrück abgeben und wurde von bisherigen Kreis St. Goar getrennt; es gehörte plötzlich einem anderen Landkreis und sogar einem anderen Regierungsbezirk als der Nachbar Oberwesel an. Nur Boppard hatte den Jackpot gezogen: Die Stadt durfte Nachbarorte wie Bad Salzig, Buchholz oder Hirzennach eingemeinden. Heute, fast 50 Jahre später, steht das Thema Gebietsreform wieder auf der Tagesordnung. Die Verbandsgemeinde St. Goar-Oberwesel ist zu klein und muss fusionieren – ein heikles Thema und gerade erst Gegenstand eines Bürgerentscheids.

Johannes Gerster, langjähriger Bundestagsabgeordneter und in den 90er Jahren auch CDU-Chef in Rheinland-Pfalz, kennt die Verwaltungsgeschichte am Mittelrhein wie kaum ein anderer. Als junger Jurist hat er selbst beim Aufbau des Landkreises Mainz-Bingen mitgewirkt. Wie schätzt er die damalige Gebietsreform heute ein? Gerster, mit 77 Jahren immer noch als Buchautor und Vortragsredner gefragt, hat mir dazu einige Fragen beantwortet.

Johannes Gerster, Jahrgang 1941, war bis 1994 Mitglied des Bundestages.
Johannes Gerster, Jahrgang 1941, war bis 1994 Mitglied des Bundestages.

Herr Gerster, Sie sind als Bundespolitiker der CDU bekannt geworden und hätten in den 90er Jahren um ein Haar Kurt Beck als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz abgelöst. Heute kennt man sie als Nahost-Experte und Buchautor. Aber am Anfang Ihrer Laufbahn stand der neu gegründeten Landkreis Mainz-Bingen. Als junger Verwaltungsjurist haben Sie die große Gebietsreform um 1970 hautnah miterlebt. Was ist Ihnen dabei am stärksten in der Erinnerung geblieben? 

Johannes Gerster: 1970 kam ich nach dem zweiten Juristischen Staatsexamen als Hilfsreferent in das Innenministerium von Rheinland-Pfalz. Auf eigenen Wunsch wurde ich in die Kreisverwaltung Mainz-Bingen versetzt, die im Zuge der Verwaltungsreform kurz zuvor aus zwei Landkreisen gebildet worden war. Dort hatte Landrat Heribert Bickel bereits das Dezernentensystem eingeführt und ich bekam u. a. die Kommunalaufsicht zugeteilt. Wir organisierten die Bildung der Verbandsgemeinden Guntersblum, Nierstein-Oppenheim, Bodenheim, Nieder-Olm, Heidesheim-Wackernheim, Gau-Algesheim, Sprendlingen-Gensingen und Bingen Land (heute Rhein-Nahe). Außerdem gehörten die verbandsfreie Gemeinde Budenheim und die kreisfreien Städte Bingen und Ingelheim zu diesem Landkreis.

Die größten Probleme waren die Grenzziehungen. Nicht selten wollten Gemeinden in die Nachbar-Verbandsgemeinde. Dazu kamen der Verlust von Kompetenzen auf der Gemeindeebene und der Ansehensverlust der Ortsbürgermeister, die sich künftig nicht mehr als Ortschefs, sondern als Briefträger zur Verbandsgemeinde sahen. Kleine Gemeinden mit 500 oder 1.000 Einwohnern waren den Anforderungen einer modernen Kommunalverwaltung nicht mehr gewachsen. Deshalb war die Bildung größerer Verwaltungseinheiten für mehrere Gemeinden überlebenswichtig. Auf der anderen Seite war das Weiterbestehen von originären Zuständigkeiten der Ortsgemeinden letztlich die Garantie für die Akzeptanz der Neugliederung. Fusion auf Verbandsgemeindeebene und Erhalt kultureller Eigenständigkeit der Ortsgemeinden war der Schlüssel dieser Reform.

Damals wurden fast überall im Bundesgebiet neue Kommunalgrenzen festgesetzt. Nordrhein-Westfalen und Hessen zogen ihre Gebietsreformen besonders radikal durch; dort ist das alles kein Thema mehr. Rheinland-Pfalz hat einen anderen Weg gewählt. Das Modell der Verbandsgemeinden ließ vielen kleineren Orten ihre Eigenständigkeit. Aber es scheint nicht überall zu funktionieren, sonst würde jetzt nicht wieder so viel geprüft und fusioniert. War die Gebietsreform der 60er und 70er Jahre  aus heutiger Sicht ein fauler Kompromiss? 

In anderen Ländern scheiterten die Kommunalreformen. Nehmen Sie Niedersachen. Dort sollten die Hafenstädte Wilhelmshaven und Emden zu einer Stadt zusammengelegt werden. Oder in Hessen sollten die alten Universitätsstädte Gießen und Marburg zu einer Stadt zwangsvereinigt werden. Beide Reformen und die jeweiligen Ministerpräsidenten scheiterten wegen Maßlosigkeiten. Rheinland-Pfalz, das ländlicher geprägt war und noch ist, hat im Interesse der Erhaltung örtlicher Strukturen kleinere Verwaltungseinheiten gebildet und zugelassen. Das hat immerhin 40 Jahre funktioniert. Dass heute nach noch größeren Einheiten gesucht wird, hängt mit der Landflucht und immer neuen Herausforderungen zusammen.

Sie waren viele Jahre Bundestagsabgeordneter für Mainz-Bingen. Bacharach wurde durch die damalige Gebietsreform von bisherigen Kreis St. Goar abgetrennt, seitdem läuft die Kreisgrenze mitten durch das Obere Mittelrheintal. Hätte man das aus Ihrer Sicht anders lösen können? 

Das Problem von Bacharach liegt meines Erachtens nicht in der Zuteilung zur Verbandsgemeinde Bingen-Land, sondern darin begründet, dass diese Kleinstadt mit weniger als 2000 Einwohnern und gerade einmal 800 im Zentrum, in jedem Fall in einer Randlage ist. Das Gleiche gilt übrigens für Oberwesel oder sogar für St. Goar. Landschaftlich wunderschön zwischen Rhein und Hunsrückhöhen gelegen, aber ohne größeres Wirtschaftszentrum! Egal ob diese Gemeinden nach Süden oder Norden angebunden werden, sie bleiben Randregionen.

Könnte man es denn heute anders lösen? Viele Menschen am Mittelrhein wünschen sich weniger Verwaltungsgrenzen und mehr Gemeinsamkeiten. Ein Mittelrheinkreis inklusive Lorch ist sicher illusorisch, eher kommt AKK nach Mainz zurück. Aber was wäre aus Ihrer Sicht innerhalb von Rheinland-Pfalz machbar und was sinnvoll?

Die Menschen suchen aus mehreren Gründen zunehmend örtliche Identitäten. Sie wollen bewusst in der Welt herumfahren und in ein örtliches Refugium, wo sie sich zu Hause fühlen, zurückkehren. Zu große Einheiten verlieren ihren Reiz, aber etwas großzügiger könnten kommunale Einheiten gerade am Mittelrhein schon werden. Das geht aber nicht durch Anweisungen von oben, da müssen mit viel Bürgerbeteiligung Modelle von unten entwickelt werden.

Sie sind Ur-Mainzer und leben natürlich auch in Mainz. Ihren Wahlkreis müssen Sie nicht mehr besuchen. Wie oft sind Sie noch im Mittelrheintal? Und wo besonders gerne? 

Ich liebe den Rhein und die wunderbaren Orte am Rhein. Klar, dass ich in meinem alten Wahlkreis bis einschließlich Bacharach regelmäßig auftauche. Klar, dass ich im nördlicheren Mittelrhein gelegentlich, wie auch in anderen Teilen des Landes, von meiner Partei als Redner eingeladen werde. Wir hatten nie ein Ferienhaus oder feste Urlaubsorte. Wir wollten im Urlaub unseren Kindern immer ein anderes Stückchen Welt zeigen. So machen wir es heute auch mit den Familien unserer Kinder und insgesamt 8 Enkeln. Das Mittelrheintal, von Mainz aus leicht zu erreichen, gehört jedenfalls zu unseren Zielorten. Es ist besser als sein Ruf und schlechter entwickelt, als es verdient wäre.

Vielen Dank für Ihre Zeit.

Mehr Informationen über Johannes Gerster gibt es auf seiner Website und auf Wikipedia. Außerdem er auf Facebook und auf Twitter zu finden.  

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